Glenn Branca an der Volksbühne: Nicht laut, sondern deutlich
Berlin - Kulturpessimismus jeglicher Art ist mir persönlich ja fremd. Aber dass die Jugend von heute nichts mehr abkann, wird man wohl nochmal sagen dürfen. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, dass die jungen Leute zur Zeit körperlich komplett verweichlicht sind.
Was sich insbesondere bei Besuchen von Rockkonzerten zeigt: Selbst bei bestenfalls mittellaut ausgesteuerten Auftritten pflegen die Zwanzig- bis Dreißigjährigen sich kollektiv dicke Schaumstoff- oder Wachsstöpsel in die Ohren zu pfropfen, weil sie die Lautstärke angeblich nicht aushalten können: eine ausgesprochen sonderbare Idee, man geht schließlich auch nicht ins Kino und bedeckt vor Beginn des Films die Augen mit einer Schlafbrille, weil die Leinwand so hell ist.
Auf so etwas wäre – sagen wir einmal – in den Achtzigerjahren, als die Konzerte noch erheblich lauter waren als heute, niemand gekommen, was die Frage aufwirft, ob die Trommelfelle damals mehr ausgehalten haben und also gewissermaßen seither ein evolutionärer Regress in der Robustheit der Wahrnehmungsorgane stattgefunden hat oder ob der Selbstoptimierungsimperativ im entfesselten Digitalkapitalismus den Menschen zu viel Furcht vorm sensorischen Exzess und einer daraus eventuell resultierenden Eigenbeschädigung eingeimpft hat; vielleicht hat sich in den letzten Jahrzehnten auch einfach eins aus dem anderen ergeben.
Schief aber schlüssig
Zu Scharen jedenfalls strömten die jungen Leute am Sonntagabend aus dem Konzert des in den Achtzigerjahren berühmt gewordenen Gitarrenkrachmeisters Glenn Branca und klagten über blutende Ohren, Schmerzen im Kopf und körperliches Unwohlsein. Dabei bewegte sich sein Auftritt in der Volksbühne in einem rundum wohltemperierten Bereich, er war nicht unbedingt leise, aber keineswegs so apokalyptisch brüllend und ohrenzerfetzend laut wie frühere, von Branca dirigierte Bühnenereignisse (etwa sein von den Überlebenden bis heute ehrfürchtig umraunter Auftritt beim ersten Berliner Atonal Festival 1982).
Was auch daran liegen könnte, dass er an diesem Abend nicht mit einem seiner hundertköpfigen E-Gitarren-Orchester auftrat – wie demnächst wieder in Paris, wo er seine „Symphony No. 16 (Orgasm)“ uraufführen wird –, sondern mit lediglich vier Gitarristen, einem Bassisten und einem Schlagzeuger.
Etwas mehr als anderthalb Stunden lang dirigierte Branca dieses Ensemble an seinem Pult in der ihm eigenen, bis zur scheinbaren Spastik hektisch zappelnden Weise; es gab ausschließlich neu komponierte Stücke zu hören, die zum Beispiel „German Expressionism“ hießen oder „Lesson No. 4“. Serielle Muster aus harmonisch schief, aber dramaturgisch schlüssig miteinander verknüpften offenen Akkorden mündeten in gewaltig sich erhebenden, brausenden Lärm.
Über stolpernden Rhythmen und seltenen Metren, wuchtigem Schlagzeugspiel und brachialen Basslinien glühten in geradezu provozierender Langsamkeit gelassene Flageolette-Töne auf. Schicht um Schicht wurden Stimmungen und Vibrationen, Klangideen und ungleichläufige Tempi übereinander gelegt und gegeneinander verschoben, bis sich daraus grell leuchtende Gewitter entluden: große, gerade gegen Ende des Abends erhabene Momente.
Erregt wie am Presslufthammer
Seit Ende der Siebziger hat Branca in New York an der Verknüpfung von brutalistischem Post-Punk und akademischer Minimal Music gearbeitet; pop-historische Bedeutung erlangte er unter anderem dadurch, dass sich die späteren Mitglieder von Sonic Youth im Umfeld seines Orchesters trafen und von ihm lernten. Auch andere Protagonisten der New Yorker No-Wave wie Michael Gira von den Swans begannen seine Karriere bei ihm; so dass man vielleicht sagen könnte: Der in den Achtziger- und Neunzigerjahren verbreitete Hang intellektuell motivierter Noise-Rocker zum Musizieren mit vielen oder auch sehr vielen, jedenfalls unterschiedlich verstimmten Gitarren und der Hang zur Obertonhypnose gehen wesentlich auf Branca zurück.
Aber bis heute vermag niemand anders als er so kunstvoll krawallhaften Krach und kompositorische Komplexität, kontemplativen Klangrausch und kristalline Klarheit zu kombinieren. Gerade dafür war die Volksbühne an diesem Abend der beste Ort: Seit ihrer Renovierung verfügt sie über eine fabelhafte Akustik, und so analytisch war das Konzert ausgepegelt und abgemischt, dass man noch während der wildesten und verschwenderischsten Momente jedes Instrument, jedes Detail, jede Nuance heraushören konnte. Bis auf den Schlagzeuger spielten alle durchgehend vom Notenblatt und verausgabten sich zugleich in körperlich extremer Weise; der Dirigent war am Ende dermaßen erregt, dass er an seinem Notenpult rüttelte wie an einem Presslufthammer.
Es waren übrigens natürlich nicht nur junge Leute an diesem Abend zugegen, sondern auch viele Veteranen des Berliner Musiklebens, Dr. Motte, Dimitri Hegemann und die Einstürzenden Neubauten in fast kompletter Besetzung. Nach dem Konzert stand man noch lange miteinander im Foyer und sprach über alte Zeiten und neue Wege zur spirituellen Erleuchtung; auch wenn es sich manchmal etwas schwierig gestaltete, weil alle schon ein bisschen schwerhörig sind.