Hamed Abdel Samad bei Lanz: „Wir müssen offen über Versäumnisse in der Integration reden“
Wie weiter nach der Messerattacke von Brokstedt? Markus Lanz diskutierte kontrovers über die prekäre Lage der Justiz und die Schwächen des Rechtsstaats.

In der Diskussion über die Geschehnisse der Silvesternacht wurde vielfach der Begriff Integration aufgerufen. Die einen betrachteten, was sie mit dem Wort verbinden, als gescheitert. Andere riefen zurück: „Integriert Euch doch selbst.“ Auffällig war dabei, dass auf unterschiedliche Weise von einem „die“ und „wir“ die Rede war – Integration als Norm, die zu erfüllen sei, situativ verfehlt oder als Haltung des sozialen Miteinanders ganz grundsätzlich abgelehnt werden kann.
Realistischer wäre es wohl, Integration als permanente Herausforderung zu verstehen, die den Einzelnen, wo er auf Menschen trifft, vorhersehbar oder unvermittelt auf die Probe stellt. Wer als Mitreisender einen Zug betritt, integriert sich auf die eine oder andere Weise als Fahrgast, wer ein Auto oder Fahrrad steuert, hat Integrationsleistungen auf der Basis der Straßenverkehrsordnung zu vollziehen. Woher also rühren die Probleme mit dem Begriff?
„Eine Gewaltexplosion findet nicht statt“
Eins dieser Probleme ist durch Gewalt gekennzeichnet, wie sie zuletzt auf erschütternde Weise in einem Zug im norddeutschen Brokstedt verübt wurde. Zwei junge Menschen starben nach einer Messerattacke. Was, so fragte Markus Lanz in seiner ZDF-Talk-Sendung vom Mittwoch, passiert, wenn das Verbrechen bereits geschehen ist? Womit haben die mutmaßlichen Straftäter zu rechnen?
Das Erste, was ihnen begegnet, ist die ratlose Reaktion der Verantwortlichen aus Justiz und Politik. Nicht ohne Bitterkeit wurde die Stellungnahme von Innenministerin Nancy Faeser kurz nach Bekanntwerden der Tat eingespielt, in der sie fragte, wie es denn sein könne, dass ein Gewalttäter mit einem derartigen Vorstrafenregister aus einer Justizanstalt habe entlassen werden können. Abschiebung, Rückführung, subsidiäre Duldung waren Begriffe, die dann in hastiger Diktion folgten.
Die Gäste des Abends waren durchweg mit juristischer Kompetenz ausgestattet. Die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bekräftigte die Handlungsfähigkeit der Justiz, die rechtlichen Möglichkeiten seien durchaus gegeben. Wie immer in solchen Runden verwahrten sich alle Sprecher gegen Gemeinplätze und pauschale Verurteilungen und griffen dann doch gelegentlich darauf zurück.
Gesetzesverschärfungen seien nicht nötig, hieß es, bald darauf folgten Bekundungen, dass man sich nicht zu allgemeinen Verurteilungen von Migranten verleiten lassen möge. Gregor Peter Schmitz, Chefredakteur der Wochenzeitung Stern, verwies denn auch auf rückläufige Kriminalstatistiken. „Eine Gewaltexplosion findet nicht statt.“
Dem deutsch-ägyptischen Autor und Islamkritiker Hamed Abdel Samad fiel die Rolle zu, den Finger in die Wunde einer allzu bereitwilligen nachträglichen Normalisierung zu legen. „Wir müssen offen über Versäumnisse in der Integration reden“, sagte er. Oder deutlich schärfer: „Der Zusammenhang von Gewalt, Flüchtlingspolitik, Migration und Religion wird tabuisiert.“ Das wiederum löste eilig Beschwichtigungsformeln aus. Man dürfe die große Zahl der ehrlichen Migranten nicht kriminalisieren, sie litten am meisten unter schrecklichen Gewalttaten wie in Brokstedt.
„Herkunft allein macht noch keine Täter“
Andrea Titz, die Vorsitzende des deutschen Richterbundes, steuerte ernüchternde Fakten bei. Es dauere etwa sechs bis acht Monate zwischen Straftat und Anklage, die Justiz habe große Personalprobleme und künftig wohl auch erhebliche Nachwuchssorgen, wenn in den kommenden sieben Jahren etwa ein Drittel der Richter in Pension geht. Ein statistischer Nachtrag: Nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016 war es zu 1210 Anzeigen gekommen, 46 Personen wurden angeklagt, 36 verurteilt, lediglich zwei von diesen für das Delikt sexuelle Belästigung.
Tatsächlich war es in dieser durchaus um sachgerechte Diskussion bemühten Runde schwer, zwischen signifikanten Einzelfällen und strukturellen Fragen zu unterscheiden. Immerhin gebe es das Grundgesetz, sagte Gregor Peter Schmitz. Es klang, als sei es ein unhintergehbarer Rettungsanker. Dem hielt Hamed Abdel Samad die Ansicht einer fragilen Gewissheit über das funktionierende Prinzip der Rechtsstaatlichkeit entgegen. Wir seien leichtfertig bereit, das Grundgesetz aus Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle zu opfern, etwa den Tierschutz hinsichtlich des Schächtens seitens jüdischer und muslimischer Glaubensgemeinschaften.
Später folgten noch einige Gemeinplätze wie „Wir wenden das Recht nicht konsequent genug an“ oder „Herkunft allein macht noch keine Täter.“ Dann aber war schon wieder Sendeschluss, und Markus Lanz bedankte sich für die spannende Runde um Mitternacht.
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