Hannah-Höch-Preis: Wider die Tyrannei des rechten Winkels
Berlin - Was hat Hannah Höch, die fein- und hintersinnige Berliner Ober-Dadaistin (1889-1978) mit Johannes Grützke, Jahrgang 1937, diesem schamlos realistischen Berliner Maler des Fleisches, der politischen und alltäglichen Fratzen, der bizarren Charaktere und Laster zu tun? Der aller zwei Jahre vom Land Berlin verliehene Hannah-Höch-Preis, der heute Abend im Stadtmuseum an Grützke – vor seinen Bildern aus 60 Jahren – geht, zeigt den Zusammenhang.
Der Maler, Zeichner, Bühnenbildner, Autor und Hochschullehrer (HdK Berlin) hat sich früh der Figur, den menschlichen Begierden, Albträumen, Schwächen und Abgründen zugewandt. Und das alles breitet die große Retrospektive in üppiger, extravaganter Bildhaftigkeit vor uns aus: gesellschaftliche Rollenspiele, Geschlechterkampf, Regression, sexuelle Befreiung, Kollektivneurosen, das deutsche Teilungstrauma. Dies alles ist in realistisch zugespitzter, gewöhnungsbedürftiger Ästhetik vorgeführt, schwer aushaltbar und höchst politisch.
Shakespeare-Dramatik, gepaart mit Hanswurst-Theater
Grützke fand im alten West-Berlin und dann in der Stadt der chaotischen Nachwendezeit das Klima für seine tabulose Kunst. Shakespeare-Dramatik, gepaart mit Hanswurst-Theater dröhnt über die Leinwand. Das Triviale wird solange um seine eigene Achse gedreht, bis ihm das Mysterium des Lebens von der absurdesten Seite begegnet: die Schranzen, Lokalheiligen, die kloß-teigigen Gesichter der guten Gesellschaft. Aus vermeintlichen Helden macht er in deren Apotheose auf riesigen Leinwänden tumbe Trottel, knautscht das Widerständige hinein in pappige Farbgebirge. Nimmt sich selbst und sein Alter Ego, den mythologischen Prometheus, nie aus.
Realismus, maltechnisch perfekt, als ironisches Programm – das zeigt sich nun im Ephraimpalais in den vielen Selbstporträts, den politischen wie kunstgeschichtlichen Parabeln und Paraphrasen, den beißend satirischen Historien-Allegorien, in denen der alte Menzel wie der alte Schadow wiederaufleben, den Bühnenbildern des Theaterfans. Zudem machte Grützke, der ja wegen seiner malerischen Fleischeslust gern mit dem DDR-Maler Willi Sitte verglichen wird, sich lustig über den Sozialistischen Realismus bei den Brüdern und Schwestern im Osten. Man kann sich schlapp lachen über das Bildnis des SED-Chefs Ulbricht inmitten einer Trachtengruppe von 1970.
"Ich male nur, um etwas über mich selbst zu erfahren."
Grützke sagt zu alledem: „Ich male nur, um etwas über mich selbst zu erfahren. Indem ich mich spiegele, spiegelt sich die Welt in meinem Spiegel.“ Soweit das Statement eines Malers der „Schule der Neuen Prächtigkeit“ Die Westberliner Vierergruppe, bestehend aus Grützke, Matthias Koeppel, Manfred Bluth und Karlheinz Ziegler, lieferte in den Siebzigern das Zerrbild von Wirtschaftswunder, Inselexistenz, Kaltem Krieg. Und Grotesken wider die Abstraktion und die Tyrannei des rechten Winkels.
Grützke, das weiß man nach dem Rundgang durch die Schau, griff und greift noch immer den ewigen Berliner Dadaismus, diese ständige Improvisation, die alltäglichen wie gesellschaftlichen Vertracktheiten in der Stadt auf. Er wirft unverdrossen lustvoll Schlaglichter auf die Sittengeschichte, auf die liberale Gesellschaft. Und er ätzt noch mit 75 gegen den innovationssüchtigen Kunstbetrieb: „Ich bin ein Klassiker. Stehe wie ein Denkmal auf dem Podest und warte nur auf den Avantgardisten, der mich hinunterwirft“.
Stiftung Stadtmuseum, Ephraim-Palais, Poststr. 16. Vom 16. 11. bis 17. 2. 2013, Di/Do–So 10–18/Mi 12–20 Uhr.