Hans Scheuerecker: Ein Bohemien aus der Provinz

Cottbus - Die Jalousien sind geschlossen, zu jeder Tageszeit, immer. Seit mehr als vierzig Jahren lebt Hans Scheuerecker in der Bahnhofstraße 75, zuerst über der FDJ-Kreisleitung, jetzt im Hochparterre.

Was sich hinter den Rollos wohl abspielt, hat die Cottbuser stets sehr interessiert. Sie hörten von Künstlerfesten, die zu Orgien ausarten, von Frauen, die bei lautem Jazz ihre nackten Körper bemalen lassen. „Sämtliche Cottbuserinnen der Jahrgänge 1960 bis 1970 haben mal bei ihm auf der Matratze gelegen“, fasst ein Einheimischer das Gerede zusammen. Scheuereckers fortwährende Anziehungskraft auf junge Frauen ist legendär.

„Um sicher zu gehen, dass sich unter den Teilnehmern keine Quelle des MfS befindet“, lade der Künstler nur „einen festen Personenkreis“ ein, hat die Staatssicherheit einmal enttäuscht notiert. Einer der dennoch eingeschleusten Informanten protokollierte, dass sich der Hausherr als der einzige Cottbuser Maler rühme, „der im Widerspruch zur DDR-Kulturpolitik steht“. Die regierenden Biedermänner der sozialistischen Bezirkshauptstadt konnten also ihre Auffassung bestätigt sehen, dass exzessive Partys und politische Rebellion dasselbe sind.

Außen bröckelte das Gründerzeithaus bis vor Kurzem grau vor sich hin. Drinnen wirkt die Atelierwohnung tatsächlich wie für Orgien konzipiert. Es gibt eine lange Speisetafel, mehrere Futons, drei Fernseher, einen Konzertflügel, ein Schlagzeug, Unmengen an Kochtöpfen, Kelchen, Karaffen und Gläsern. Alles glänzt blitzblank, fast alles ist schwarz-weiß, passend zur Ästhetik der Reduktion in Scheuereckers Kunst.

Seine Bilder tragen Titel wie „Wir sind so verdorben und doch so rein“ oder „Nachschminken bei Sonnenaufgang“. Sie sehen aus, als habe ein Wüstling die Chronik seiner Ausschweifungen in einem Schockfroster zu abstrakt-primitiven Zeichen kondensiert. Schroffe, schlingernde, überwiegend schwarze Linien füllen große Leinwände. Menschliche Formen bleiben in perspektivischen Verzerrungen erkennbar: vor allem Augen, Münder, Nasen, Schamlippen und Brüste. Fiebrige Farben sind in harten Kontrasten gegeneinander gesetzt.

Im Atelierraum leuchtet Scheuerecker seine in Zwiesprache mit der Wodkaflasche zu Papier gebrachten Zeichen per Projektor auf die Leinwand. Assistenten tragen die Farbe zu makellos glatten Oberflächen auf. Hier wird nicht mit wildem Pinsel rumgesaut. Der Wüstling legt Wert auf Akkuratesse.

Eigentlich hat Hans Scheuerecker eine Würdigung in den nationalen Museen verdient – in der Reihe der bedeutendsten ostdeutschen Maler von Werner Tübke bis Neo Rauch. Sein von Vorbildern wie Picasso und Modigliani inspiriertes Werk strahlt etwas aus, das in der DDR-Malerei ganz unüblich ist: stylische Coolness. Der große Durchbruch blieb jedoch aus, obwohl sich zeitweilig das Museum of Modern Art in Rio de Janeiro, die renommierte Galerie Eigen + Art, die Deutsche Bank und die Dresdner Bank für sein Schaffen interessierten.

Ein Leben wie ein Roman

In Cottbus schmücken Hans Scheuereckers Werke seit der Wende die Vorstandsetagen, wo nun Lobreden auf seine Unangepasstheit gehalten werden. Der Lausitzer Maler-Star verdiente in den 90er-Jahren plötzlich viel Geld. Umstritten ist er, auch deshalb, noch immer. Zwischen 1973 und 1984 beschatteten ihn 85 Inoffizielle Mitarbeiter des MfS. Heute wird in seiner Heimatstadt getuschelt, weil ein ehemaliger Stasi-Hauptmann sein Mäzen ist.

Im schillernden Leben dieses Künstlers steckt viel von den Widersprüchen Ostdeutschlands. Schon deshalb lohnt es sich, diesen Mann zu besuchen, dessen Leben wie das einer Romanfigur erstrahlt. So wie der ganze Osten ja immer mehr zum Romanstoff zu werden scheint.

Um Hans Scheuerecker zu beschreiben, sind Begriffe wie „markante Erscheinung“ und „Grandezza“ unvermeidlich. Ein weißes Hemd und eine schwarze Hose mit Trägern umspannen seine voluminöse Statur. Der große kahle Kopf glänzt. Im Sommer schmückt sich Scheuerecker mit einem Fächer. Jetzt sitzt er hinter seinem Besuchertresen in der Küche, wo gut gekühlter Schnaps und Sekt stets in Griffweite stehen. Exzellenter Obstler fließt ins Glas.

Der 1951 geborene Thüringer siedelt 1971 in die Niederlausitzer Braunkohlestadt über, um Bühnenmaler am Staatstheater Cottbus zu werden. Diese Ausbildung bricht er wegen kreativer Unterforderung ab. Die ersten Jahre danach hält sich Scheuerecker mit Hilfsjobs über Wasser. Er kleistert Plakate an Wände, näht Stoffmäusen die Ohren an, hockt als Pförtner herum und zeichnet, malt, übt.

Seine künstlerischen Anfänge sind überraschend traditionell. Angeregt von Dresdner Expressionisten malt Scheuerecker düster-harsche, doch noch ganz gegenständliche Porträts und Stillleben. Einem Selbstbildnis als Harlekin verpasst er ein Einschussloch in der Stirn. Etwa ab 1979 entwickelt Hans Scheuerecker seinen von ihm vielfach variierten grafischen Stil der Verknappung. Ab Mitte der 80er-Jahre startet er seine Performances, malt auf raumfüllenden Papierbahnen und Tänzerinnen bewegte 3D-Gemälde. Der Staatssicherheit sind die Ausdrucksformen und das Auftreten des selbstbewussten Autodidakten von Anfang an suspekt.

„Über wen hätten die in Cottbus berichten sollen, wenn nicht über mich?“ fragt Scheuerecker. Über sein Leben als Kunst-Provokateur erzählt er an seinem Tresen stundenlang unterhaltsam. In der Hitze des Monologisierens malen seine Hände anmutige Gesten in die Luft, sie schieben die Brille zur Stirn hoch und wieder runter, sorgen für Schnaps-Nachschub. „Setz dich in die Kneipe und erzähl allen alles.“ So habe er es in der DDR gehalten, damit Spitzel nicht dachten, sie könnten ihn wegen seiner Lebensweise erpressen.

Private Details, die sein Boheme-Dasein unterstreichen, offenbart der Künstler weiterhin mit geradezu exhibitionistischer Freude. Er blättert das Fotoalbum seiner zwölf afrikanischen Geliebten auf, barfüßelt seinen schweren Leib erstaunlich behend durchs Atelier und kommt mit zwei dicken roten Akten zurück. Diese mehr als achthundert Seiten füllenden IM-Berichte über ihn pflegt Scheuerecker als bizarre Unterhaltungslektüre auf seinen Partys auszulegen. Er ruft einen befreundeten Druckereibesitzer an. „Wundere dich nicht, wenn gleich ein Journalist mit meiner Stasi-Akte zu dir kommt. Darfst ihm ruhig eine Kopie machen.“

Wie dort nachzulesen ist, spitzt sich der Konflikt mit der Obrigkeit ab 1977 zu, als Scheuerecker eine Vorladung beim MfS demonstrativ verpennt, auf die Polizeiwache geführt wird und eine Zusammenarbeit ablehnt. Die Stasi versucht daraufhin, seine Aufnahme in den Bezirksverband der Bildenden Künstler und somit seinen Zugang zu Aufträgen und Ausstellungen zu sabotieren. Scheuereckers Gegner im Verband werfen ihm sein Autodidaktentum vor. Außerdem sei er nicht der Staatsbürger, „wie man das von ihm erwarten müsste“. Durch Einspruch beim Zentralverband kann der Abgewiesene seine Aufnahme 1982 durchsetzen.

Seither sind drei Jahrzehnte vergangen, aber in Scheuereckers Umfeld sind die Akteure oft noch dieselben wie in der DDR. Sie begegnen sich in überraschend neuen Konstellationen.

Einer, der gegen Hans Scheuereckers Aufnahme im Künstlerverband gestimmt hat, ist der Cottbuser Maler Günther Rechn. Der Schüler Willi Sittes war Bezirksvorsitzender des Verbandes und SED-Mitglied. In einer Fabrik, wenige Hundert Meter von der Bahnhofstraße entfernt, malt er beinahe altmeisterliche Tiergemälde. Das Gespräch über den Fall Scheuerecker ist dem 69-Jährigen unangenehm, doch er versucht, sich zu erklären: „Ich wollte Hans aus der Schusslinie nehmen. Ich dachte, ein Kunststudium wäre für ihn zunächst das Beste. Deshalb habe ich zu Machtmitteln gegriffen. Vielleicht war das falsch.“

Einer der ehemaligen IMs arbeitet seit Mitte der 80er-Jahre als Kurator im Kunstmuseum Dieselkraftwerk: Jörg Sperling. Der Kunstwissenschaftler ist der wohl beste Kenner von Scheuereckers Werk. Er hat zwischen 1986 und 1989 Stasi-Gutachten über ihn und andere Künstler verfasst. Es waren wohlwollende Texte, die um Verständnis für die junge Kunstszene warben, geschrieben allerdings hinter dem Rücken der Betroffenen für einen hinterhältigen Auftraggeber. Jörg Sperling hat sich bereits 1992 geoutet.

Scheuerecker hat zu Sperling und Rechn trotz der Vorgeschichten ein gutes Verhältnis. Mit dem Kurator ist er seit Jahrzehnten befreundet. Das erstaunlichste Bündnis aber ist Hans Scheuerecker nach 1990 mit dem Cottbuser Bau-Unternehmer Helmut Rauer eingegangen. Rauer hat seit 1978 als IM „Wolfgang Schubert“ in Lausitzer Kraftwerken spioniert und „scheute sich nicht, auch Personen aus seiner Umgebung zu belasten“, wie es in seiner Personalakte beim MfS lobend heißt. Dort arbeitet er ab 1979 bis zum Ende der DDR als Führungsoffizier. Nach der Wende gründet Helmut Rauer etliche Firmen. Als wichtiger Arbeitgeber, Immobilienbesitzer, Fußballsponsor, Kunstmäzen und Ehrensenator im Karnevalsverband zählt er in Cottbus zur besseren Gesellschaft. Er sammelt mit Passion Werke Hans Scheuereckers.

Dem Künstler ist das Thema Helmut Rauer merklich unangenehm. Er hat für diese Unterredung einen weiteren Gast an den Tresen geben: den Cottbuser Buchhändler Sven Krüger. Der ist ein Sammler Scheuereckers und so etwas wie sein ehrenamtlicher Sekretär. Er fungiert auch als Ohrenzeuge und Gedächtnis bei heiklen Gesprächen. „Herr Rauer ist nur mein Vermieter“, sagt Hans Scheuerecker. „Ich hatte eine Beziehung zu seiner Stieftochter, nicht zu ihm.“

„Herr Rauer ist nur einer unter vielen, die Arbeiten von Scheuerecker sammeln“, ergänzt Krüger. Dann Themenwechsel und ein Schnaps.

Menschen im Glashaus

Dass die Verbindung zwischen Helmut Rauer und Hans Scheuerecker mehr Gewicht hat, belegt eine Episode aus dem Jahr 2001. Damals berichtet die Reporterin Simone Wendler in der Lausitzer Rundschau über Fälle von Filz und Korruptionsverdacht in der Cottbuser Wirtschaft. Wiederholt erwähnt sie Rauer und dessen Stasi-Vergangenheit. Scheuerecker tritt daraufhin in dem von Rauer mitfinanzierten Privatsender Lausitz-TV mit seiner dicken Stasi-Akte auf der Schulter vor die Kamera. Er beklagt, dass „Menschen im Glashaus mit großen Steinen nach anderen schmeißen“ und behauptet, dass ein Rundschau-Journalist, Ex-Ehemann von Wendler, ihn observiert habe. Der Off-Kommentar unterstellt, dass Simone Wendler von der IM-Tätigkeit des Ex-Mannes, von dem sie zur fraglichen Zeit längst geschieden war, gewusst habe.

Es ist ein bemerkenswerter Vorgang: Ein Stasi-Opfer enttarnt einen Stasi-IM, um den Ruf eines ehemaligen Stasi-Offiziers zu verteidigen. So kann es sein, das Leben, nicht nur im Roman.

Der Bohemien erhebt mit Leben und Werk den Anspruch, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Dieses Ideal eines nur sich selbst verpflichteten Künstlertums ist vielleicht der Grund, warum Hans Scheuerecker der DDR-Obrigkeit mutig trotzt, aber später den Kontakt zu einem ehemaligen Stasi-Offizier nicht scheut. Am Party-Tresen formuliert er diese Indifferenz gegenüber politisch-moralischen Erwartungen wie immer pointiert: „Aus der Sicht der Roten waren wir die subversiven Kräfte, aus meiner Sicht nicht.“