Der Einzelne und seine Begeisterung in der Masse

Die Bundesliga-Saison ist mit traurigen Geisterspielen zu Ende gegangen. Der Literaturwissenschaftler und BVB-Fan Hans Ulrich Gumbrecht hat die Corona-Auszeit für eine erhellende Studie über das „Stadion als Ritual von Intensität“ genutzt.

Ein Bild aus dem Februar dieses Jahres: Die „gelbe Wand“ von Dortmund beim Spiel gegen Eintracht Frankfurt.
Ein Bild aus dem Februar dieses Jahres: Die „gelbe Wand“ von Dortmund beim Spiel gegen Eintracht Frankfurt.imago images

Berlin-Es hätte ein großes Fest auf der „Süd“, wie man in Dortmund sagt, werden können. Bei entsprechendem Saisonverlauf und einem passenden Ergebnis an diesem letzten Spieltag gegen Hoffenheim hätte die „gelbe Wand“ ihr bedrohliches Potenzial ab- und ihre Begabung zur Erzeugung von Glücksgefühlen freigelegt. Nun aber ist alles anders gekommen. Weder hat Borussia Dortmund es vermocht, dem FC Bayern Paroli zu bieten, noch wäre es überhaupt möglich gewesen, das Stadion für ein finales Volksfest zu bevölkern. Geisterspiele. Die Fans dürfen nicht einmal in Kleingruppen vors Stadion. Der Fußball befindet sich in einer traurigen Phase der Selbstirritation.

Der Literaturwissenschaftlicher Hans Ulrich Gumbrecht hat die Corona-Auszeit zum Anlass genommen, die Intensität des Massenerlebnisses im Moment von dessen Ausbleiben unter die Lupe zu nehmen. Was bringt die Menschen überhaupt dazu, sich immer wieder unter ihresgleichen aufzuhalten? Aus wissenschaftlicher Sicht ist Gumbrecht für die Beantwortung dieser Fragen ein unsicherer Kantonist. Er ist Fußball-Fan, schlimmer noch: ein Anhänger des BVB. Seine Initiation fand 1958 bei einem Europapokalspiel zwischen dem BVB und dem AC Mailand in der legendären Kampfbahn Rote Erde statt.

Gumbrecht will natürlich seine Kindheitserinnerungen loswerden. Adi Preißler, Wolfgang Paul. Weißte Bescheid. Gumbrechts Studie über „Das Stadion als Ritual von Intensität“ geht aber weit über die Mythisierung früher Erlebnisse hinaus, indem er sich schnell aus der Fan-Perspektive verabschiedet. In der gebotenen Kürze eines Essays legt er flinke Dribblings hin, die einzelne Theorien über die Masse auf deren Gehalt prüfen und die meisten davon zurückweisen. Die prominenten stammen von Nietzsche, Le Bon, Freud und Elias Canetti und stehen im Zeichen einer Verachtung der Masse, in der der Einzelne enthemmt erscheint und all das preiszugeben bereit erscheint, was ihn als Individuum charakterisiert. 

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Das aber deckt sich nicht mit den Erfahrungen des Intellektuellen Gumbrecht, der geradezu süchtig danach ist, in aller Welt auch die leeren Stadien zu besichtigen. Das Hochgefühl des Aufenthalts in der Masse, das er als Fußball-Fan kennt, hat ihn nie dazu verleitet, sein differenziertes Wahrnehmungsvermögen abzulegen. Aus der Geborgenheit in der Masse, das leugnet Gumbrecht nicht, vermag jederzeit auch Gewalt hervorzugehen. Gumbrechts kurzer Essay, geschrieben in der Corona-Spielpause, ist ein erhellendes Stück Literatur über das Bedürfnis nach Massenerlebnissen in einer Zeit, in der die Repräsentationsform Masse immer stärker an Bedeutung verliert.

Hans Ulrich Gumbrecht: „Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität“. Klostermann Essay, Frankfurt a. M. 2020. 154 S., 14,80 Euro