Hans-Ulrich Thamer: Berlin im Dritten Reich: Mehr als tausend Worte?
Es heißt, ein Bild sage mehr als tausend Worte. Es fehlt nicht an Belegen für diese Auffassung. Folgt man dem deutschen Wikipedia, ist sie freilich eine Erfindung der Werbung. Dort heißt es: „Angeblich sollen diese Worte von P. J. Reuter stammen, dem Gründer der ursprünglich deutschen Nachrichtenagentur Reuters. Diese Zuschreibung ist allerdings nicht belegt. Der erste gedruckte Nachweis findet sich im englischen Sprachraum. Am 8. Dezember 1921 veröffentlichte Fred R. Barnard in einer Fachzeitschrift der Werbebranche, Printers’ Ink, eine Anzeige mit dem Slogan ‚One Look is Worth A Thousand Words’. Die Anzeige warb für den Gebrauch von Bildern in Werbeaufdrucken auf Straßenbahnen. Am 10. März 1927 erschien eine zweite Anzeige mit der Phrase ‚One Picture is Worth Ten Thousand Words’. Dort wird behauptet, es handele sich um ein chinesisches Sprichwort. Das Buch The Home Book of Proverbs, Maxims, and Familiar Phrases zitiert den Autor Barnard, der sagte, er habe den Slogan ‚als chinesisches Sprichwort betitelt, damit die Leute es ernst nehmen’.“ Was als eine Erkenntnis oder wenigstens als eine Erfahrungstatsache daher kommt, dient in Wahrheit nur dem Zweck, statt der billigen Textanzeigen teurere Bildanzeigen zu verkaufen. Bezeichnend auch für die in der Werbung besonders ausgeprägte Neigung zur Großmäuligkeit der Schritt von den Tausend zu den Zehntausend. Es ist eine Redensart des Zwanzigsten Jahrhunderts, die so tut, als wäre sie eine alte chinesische Weisheit. Ihre Geschichte scheint allerdings noch einmal zu belegen, was sie behauptet: Mit Worten lässt sich besser lügen als mit Bildern. Wer die Geschichte genauer wissen will, der lese sie im englischen Wikipedia nach. Da stammt der erste Beleg aus dem Jahre 1911. Auch von einem Werbemann, der sich Gedanken macht über Journalismus und Werbung. Es gibt im englischen Wikipedia freilich auch diese Bemerkung: „Trotz dieser modernen Ursprünge der populären Wendung, wurde das Gefühl doch schon von früheren Autoren formuliert. So schrieb zum Beispiel der russische Autor Iwan Turgenjew (1862 in Väter und Söhne): ‚Ein Bild zeigt mir auf einen Blick, was ich auf Dutzenden von Buchseiten erklären müsste.’“ Auslöser für diesen Ausflug in die Geschichte einer Redensart ist ein Bildband über „Berlin im Dritten Reich“. Er belegt mit seinen sechshundert Fotos sehr deutlich, wie wenig ein Bild sagt. Vor allem aber, dass es nicht sagen kann, was Worte sagen. Im Text liest man von der Industrie- und Handelsmetropole, die Berlin Mitte der 20er Jahre – ganz anders als heute – einmal war. 297.770 Betriebe mit 1 768 421 Beschäftigten. Die junge Elektroindustrie beschäftigte allein schon 174.000 Menschen. Ein paar Seiten später liest man vom Verfall dieser Industrie nach der Weltwirtschaftskrise: Die Industriebetriebe schrumpften um mehr als ein Viertel. Bald war fast ein Drittel aller Erwerbsfähigen in Berlin arbeitslos. Kein Foto kann das zeigen. Eine Grafik kann diese Zahlen in ein Bild umsetzen. Aber das ist dann ein Bild, das gelesen werden muss wie ein Text. Mit „auf einen Blick“, wie Turgenjew das sagte, ist es dann nicht mehr getan. Fotos zeigen eine bestimmte Situation, den klar definierten Ausschnitt einer Situation. Der kann sehr sprechend sein. Zum Beispiel jenes Foto aus dem Oktober 1932, das das SA-Sturmlokal am Mühlendamm zeigt. Vor dem Gebäude zwei Reihen zackig aufgestellter SA-Männer. An ihm zwei riesige Hakenkreuzfahnen, dazwischen ein bemaltes Tuch auf dem ein überlebensgroßer, kräftiger SA-Mann die Köpfe zweier Männer auf einander prallen lässt. Ein Kapitalist und ein Kommunist. Über der ungelenken Malerei steht in großen Buchstaben „Tod der Reaktion“. Darunter deutlich kleiner: „Zerschmettert den Marxismus“ Unter dem Tuch steht weiß auf schwarz wie auf einer Tafel in großen Buchstaben: „Warme Küche“. Natürlich sagt uns dieses Foto sehr viel über das, was die SA unter National-Sozialismus verstand. Das Foto zeigt, dass es eine Propaganda der Tat war. Der kriegerisch-militärischen wie auch der solidarisch-humanitären. Der Schläger-Trupp und die warme Küche. Wir finden die gleiche Verbindung heute in terroristischen Organisationen überall auf der Welt. Zum Hass und Vernichtungswillen gegenüber den Anderen gehört immer die Behauptung der Fürsorglichkeit gegenüber den eigenen Leuten. Die freilich dann rückhaltlos verheizt werden im Kampf gegen eingebildete und immer wieder neu kreierte Feinde. Aber das Foto erzählt diese Geschichte auch nur dem, der sie schon kennt. Es fungiert als Beleg für ein Geschichtsbild, das aus Texten konstruiert wurde. Ein paar Seiten weiter ein ganz ähnlicher Befund. In Berlin und Umgebung werden in den ersten Monaten des NS-Regimes in mehr als 170 Kellern, leeren Werkshallen und Baracken, so schreibt Thamer „’wilde’ Konzentrationslager“ eingerichtet. Fotos dieser Realität sind nicht erhalten. Vielleicht gab es sie nie. Aber selbst wenn es eines gäbe von den Gefolterten in einem Keller - das Ausmaß der Verfolgung wäre nicht zu sehen. Ein undatiertes Foto zeigt drei Polizisten, die vier Männer anhalten. Unter dem Foto heißt es: „Hier werden an der Friedrichstraße/Ecke Behrenstarße tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten auf Fahrrädern von der Polizei gestoppt.“ Dass es sich bei den dreien, von denen übrigens nur zwei sich mit den Fahrardfahrern beschäftigen, um Polizisten handelt, ist sicher. Aber woher weiß man, dass die vier Kommunisten sind? „Vermeintlich“ liest sich so, als hätten die Polizisten sie im Verdacht, Kommunisten zu sein. Nichts aber deutet darauf hin. Es scheint, der Verfasser der Bildunterschrift hegte diese Vermutung oder legte sie seinen Lesern nahe. Hans-Ulrich Thamers Texte – dafür ist der Leser ihm dankbar - schüren sein Mißtrauen den Bildern gegenüber. Thamer zeigt uns unterschiedliche Aufnahmen vom Fackelzug, mit dem die Anhänger Hitlers seine Ernennung zum Reichskanzler feierten. Es sind unterschiedliche Fackelzüge, erläutert er. Da ist ein Foto, das zeigt einen geordneten, in militärischem Gleichschritt durchs Brandenburger Tor ziehenden Aufmarsch, dem sich am Rande Tausende zum Hitlergruß aufgereckter Hände entgegenstrecken. Dieses Foto ist eine Fälschung. Der Fackelzug wurde später mehrfach nachgestellt, bis die Propagandaabteilung die „richtigen“ Bilder hatte. Laienaufnahmen zeigen eine wesentlich weniger straff organisierte Schar. Heute wäre das Amateurfoto eindeutig die bessere Propaganda. Diesen Fackelträgern nimmt man die Begeisterung eher ab, als den gedrillten Maschinen-Menschen des gestellten Fotos. Wir mögen zwar die Inszenierung, aber derzeit gerade nicht die des Gleichschritts. Die Bilder von den Olympischen Spielen in Peking waren darum eine sehr ambivalente Botschaft. Bunt und heiter. Aber Tausende von Menschen absolut synchron. Das ist zu viel. Bei solchen Bildern erwacht unser Misstrauen. Da ist dann gleich, was die Korrespondenten dazu sagen. Manchmal sagen Bilder uns eben doch mehr als tausend Worte.
Hans-Ulrich Thamer: Berlin im Dritten Reich - Herrschaft und Alltag unter dem Hakenkreuz, Elsengold Verlag, Berlin 2014, 400 Seiten, ca. 600 s/w Abbildungen, 39,95 Euro.