Harry Styles in Berlin: König der Achtsamen

Kindness statt Krawall, Ermutigung statt Erwartungen. Harry Styles hat seinem Ruf als Botschafter eines neuen Männerbildes in Berlin alle Ehre gemacht.

Harry Styles (Archiv)
Harry Styles (Archiv)AP/Jordan Strauss/Invision

Am heißesten Tag des Jahres ist Harry Styles in Berlin. Gibt es da womöglich einen Zusammenhang? „Natürlich ist das kein Zufall!“, ruft Zoe aus Pankow. Gemeinsam mit vier Freundinnen wartet sie vor der Mercedes-Benz-Arena auf den Einlass. Alle haben blaue Shorts und verschiedenfarbige Crop-Tops an, nebeneinanderstehend bilden sie einen fröhlichen Regenbogen. Hunderte Federboas kleben an diesem Mittwochabend an der schweißnassen Haut ihrer Trägerinnen, Schminke verläuft und Hände krampfen vom Fächern. Trotzdem herrscht kollektive Glückseligkeit, Tränen der Verzweiflung fließen nur bei denjenigen, die gerade für viel Geld gefälschte Tickets für das ausverkaufte Konzert gekauft haben.

„Love on tour“, lautet das Versprechen für diesen Abend, das Harry Styles nach zwei pandemiebedingten Terminverschiebungen nun endlich einlösen kann. „Ich verlange nur eine einzige Sache von euch“, kündigt er zu Beginn der Show an: „Habt heute so viel Spaß, wie ihr nur könnt. Singt, tanzt und tut alles, wonach ihr euch fühlt. Seid der Mensch, der ihr schon immer sein wolltet!“ Dann fordert er alle Zuschauer auf, sich an den Händen zu halten, natürlich nur, wenn es ihnen nicht unangenehm ist. „Jetzt dreht euch zu der Person nach links und sagt, dass ihr sie liebt.“ Folgen soll der Schwur nach rechts: „Ich passe auf dich auf.“ Dann mit geschlossenen Augen zu sich selbst: „Dich liebe ich auch.“

Karrierebeginn in der Castingshow

Man fühlt sich an dieser Stelle kurz an den Auftritt von Billie Eilish erinnert, die wenige Wochen zuvor in derselben Halle auf ganz ähnliche Weise Liebe, Verständnis und Sanftheit beschwor. Beide Megastars bewegen sich damit in der Tradition von Lady Gaga, doch während die selbst ernannte „Mama Monster“ ihre Botschaft auf überdimensionalen Einhörnern einreitend verkündet, bevor sie auf ihren Flügel einhackt, als lägen Gesetzesentwürfe von Donald Trump auf den Tasten, und dann inmitten von in Lack gehüllten Tänzern zuckend formwandelt, setzt die jüngere Generation auf Zurückhaltung.

Genau wie Billie Eilish verzichtet auch Harry Styles bei seinem Auftritt auf Kostümwechsel oder ein elaboriertes Bühnenbild und verlässt sich stattdessen ganz auf seine Stimme und sein Charisma – Qualitäten, die ihn binnen zwölf Jahren vom Teenie-Star zur Stil-Ikone und einem der beliebtesten zeitgenössischen Popstars gemacht haben, auch jenseits der Gen Z.

Styles’ Karriere begann in einer Castingshow als Mitglied der Band One Direction, die für die britische Version von „The X Factor“ zusammengestellt wurde. Die fünf Teenager schafften es nur auf den dritten Platz, bekamen aber trotzdem einen Plattenvertrag von Sony und wurden mit Songs wie „What Makes You Beautiful“ und „Story of My Life“ zu Superstars. Seit 2017 hat Harry Styles drei Soloalben herausgebracht, das neueste, „Harry’s House“, im vergangenen Mai. Die Songs darauf sind funkig beschwingt, nostalgisch, aber nicht retro, sie erzählen von Selbstermächtigung, Lebensfreude und Sex.

Der süße Saft der Wassermelone

Mit seinen erotischen Präferenzen hat der Sänger in Vergangenheit öfter kokettiert, letztendlich ließ er die Frage, ob er auch Männer liebt, aber unbeantwortet. In der LGBTQ-Community hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht, manche werfen ihm sogenanntes Queerbaiting vor, was das Aneignen queerer Ästhetik meint, ohne sich klar dazu zu bekennen. Als erster Mann überhaupt war Styles im Dezember 2020 solo auf dem Cover der amerikanischen Vogue abgebildet, er trug ein Abendkleid von Gucci mit Rüschen und darüber ein Smoking-Jackett.

Seine weiblichen Fans, die auch in der Mercedes-Benz-Arena klar überwiegen, irritiert er damit nicht, ganz im Gegenteil. Styles’ Zurschaustellung feminin konnotierter Attribute übt augenscheinlich einen besonderen Reiz aus, zumal er sie offen mit einer sexpositiven Attitüde kombiniert. In „Cinema“ heißt es: „If you're getting yourself wet for me/ I guess you're all mine/ You're sleeping in this bed with me“. Einer von Styles’ erflolgreichsten Songs, „Watermelon Sugar“, ist eine Hymne an den Rausch des Cunnilingus. So ist auch zu erklären, warum sich eine junge Frau in der ersten Reihe eine riesige Stoffmelone um den Kopf geschnallt hat.

Tatsächlich stehen in den meisten Songs die Bedürfnisse von Frauen im Zentrum, nicht nur sexuell. In „Matilda“ wird die Besungene ermutigt, ihre Familie hinter sich zu lassen, von der sie keine Liebe erfährt, in „Boyfriends“ geht es um Männer, die ihre Partnerinnen nicht zu schätzen wissen. Als Styles diese Lieder singt, stehen die drei Frauen an seiner Seite, die die Hälfte seiner Band ausmachen. „Thank you, Harry“, ertönt anschließend ein lauter Schrei aus der Menge. Wie manches andere an diesen Abend wirkt das fast zu harmonisch, etwa als der Sänger ein Mädchen namens Zora anspricht, das ein Plakat mit der Aufschrift „Help me come out to my mom“ („Hilf mir, mich vor meiner Mutter zu outen“) in die Luft hält. Er tut das natürlich bereitwillig und überbringt die Botschaft an Mama Annette, die weiter hinten im Innenraum steht. Freudentränen fließen, die Regenbogenflagge wird gemeinsam geschwenkt. Fast exakt die gleiche Situation hat sich vor zwei Wochen schon beim Konzert in Hamburg zugetragen. Vermutlich hat Zora sich davon inspirieren lassen, etwas anderes mag man nicht unterstellen.

Zu gut, um wahr zu sein, ist Kritik, die beseelte Fans an einem solchen Abend nicht hören wollen. Und warum sollten sie auch? „Passt aufeinander auf, seid gut zueinander und zu euch selbst“, ruft Harry Styles zum Abschied. Es ist einen Versuch wert.