Henrik Ibsens „Frau vom Meer“ in Berlin: Schöne Schäden am Deutschen Theater

Berlin - Wo sind wir? Einen Moment lang wähnte man sich am Mittwoch bei der Premiere von „Die Frau vom Meer“ nicht im Deutschen Theater, sondern in der Schaubühne: Henrik Ibsen, inszeniert um einen Edelbungalow herum, der aus einem Architekturmagazin stammen könnte oder eben vom Schaubühnenbildner Jan Pappelbaum. Eine einschüchternde Schauspielerin, die den Abend auch ganz allein wegschleppen könnte, gibt es mit Susanne Wolff ebenfalls. Gepflegtes Interieur, adrette Kleidung, Musikeinspielungen − und sogar das selbstreflexive Schaubühnenlieblingsrequisit steht herum: Ein Flachbildfernseher (TV-Realismus!).

Virtuose Überzogenheit

Hier aber hat der Analytiker Stephan Kimmig inszeniert. Man merkt den Unterschied zu Thomas Ostermeiers Ibsen-Abenden etwa daran, dass man nach fünf Minuten immer noch nicht weiß, woran man ist, was die Figuren eigentlich haben, wer im Recht ist und wem geholfen werden muss. Schluss jetzt mit dem gemeinen Vergleich!

Kimmig lässt seine Spieler mit virtuoser Überzogenheit agieren − alle scheinen kurz vor dem Nerven-Kollaps zu stehen − treibt aber gleichzeitig das Reflexionsniveau in die Höhe. Wir Zuschauer sollen uns nicht sofort in die Identifikation verkriechen, sondern Abstand halten, sollen wissen, dass die Spieler spielen, prägnante Neurosen vorführen, die einem wohlbekannt sind, wenn auch zumeist in der kompensierbaren Hausgebrauchsvariante.

Ellida, die Frau vom Meer, wurde von dem verwitweten Arzt Wangel geehelicht. Sie war jung, in einen amerikanischen Seemann verguckt, nach dem Tod ihres Vaters aber auch mittellos, also reif für die Ehe. Sie schien Wangel kompatibel für die eigene Liebesbedürftigkeit und seine beiden mutterlosen Töchter. Ellida bekam sogar ein Söhnchen von ihm, das aber nach ein paar Monaten starb.

Das ist nun auch schon wieder ein paar Jahre her. Die Beziehung zu den Stieftöchtern ist kompliziert, das Eheleben stagniert bei der schwarzen Null, und auch die kann Wangel nur durch Ellidas medikamentöse Regulierung halten. In seiner therapeutischen Ratlosigkeit lädt er Ellidas ehemaligen Lehrer ein, in der irrtümlichen Annahme, dass dieser ihr unerfüllter Liebestraum sei. Dann fliegt ihm alles um die Ohren.

Weil das lehrreich und unterhaltsam ist, gibt es die Schlüssel-Eheszene gleich im variierten Doppelpack. Die Wiederholung ist ein starkes Zeichen für den Stillstand in der Ausweglosigkeit. Susanne Wolff und Steven Scharf liefern sich einen harten, aber fairen Kampf. Es ist durchaus nicht klar, wer hier Opfer und wer Täter ist, und ebenso wenig, wer den größeren Schaden hat. Wolff verwandelt sich zwischendurch in eine flügellose Möwe und faltet die Stieftöchter im Vorbeigehen zusammen.

Scharf hält ein nervöses Dauernicken durch, das sich aus der arzt-typischen Aufmerksamkeitssimulation entwickelt haben könnte, aber auch aus seiner Art, alles permanent mindestens zweimal anzugucken, so als würde er den Dingen und dem Raum nicht trauen, schon gar nicht den Menschen. So, als hege er den Verdacht, dass hier alles irgendwie nicht echt sein könnte, vielleicht sogar eine Theateraufführung. Dass er selbst jenen Ami-Seemann spielt, die personifizierte Lebensflucht- und Glücksillusion der eigenen Gattin − ist das nun eigentlich sein Einfall, also ein besonders feiner therapeutischer Kniff − oder der von Kimmig, der uns zeigen will, dass die Alternative von bürgerlicher Ehe und idealer Leidenschaft auf dasselbe hinausläuft.

Training für zu Hause

Auch die Nebenfiguren haben ihre psychopathologisch gepfefferten Auftritte. Der zu Hilfe geholte Lehrer Arnholm (Michael Goldberg) motzt übellaunig die örtlichen Nervenwracks an und wird, in der Herbeizwingung seiner Lastminute-Beweibung, selbst zu einem. Die Töchter − Bolette (Franziska Machens) und Hilde (Lisa Hrdina) − haben das Misstrauen in die eigenen Sehnsüchte längst in kleidsame Verhaltensauffälligkeiten umgearbeitet, die sie nicht ohne Stolz und stets mit Absicht ausspielen. Der Kleinstadtkleinkünstler und Alleskönnenmüsser Ballested (Timo Weisschnur) bricht in gesunde Tränen der begründeten Selbstverzweiflung aus, wohingegen sein Pendant Lyngstrand (Bejamin Lillie) sich von seiner beneidenswert realitätsfernen Künstler-Ich-Liebe nicht abbringen lässt, nur weil er bald sterben muss.

Sich die Schauspieler bei der wohlgeratenen Figurenarbeit zu besehen, den verzwickten Situationen auf die Spur zu kommen und deren Ausklamüserung für zu Hause zu trainieren, das ist ein so gepflegtes wie nützliches intellektuelles Vergnügen. Wir sind im DT.

Die Frau vom Meer Von Henrik Ibsen, Deutsch: Heiner Gimmler

Regie: Stephan Kimmig

Bühne: Katja Hass

Kostüme: Anja Rabes

Musik: Michael Verhovec

Es spielen: Susanne Wolff (Ellida Wangel), Steven Scharf (Doktor Wangel und Der Fremde), Franziska Machens (Bolette), Lisa Hrdina (Hilde), Michael Goldberg (Arnholm), Benjamin Lillie (Lyngstrand), Timo Weisschnur (Ballested)

Vorstellungen: 30. Nov., 6., 19., 26. Dezember

im Deutschen Theater

Karten: Tel. 28 44 12 25