Hijacking Memory: Wie eine Konferenz Engpässe deutscher Debatten aufzeigt
Eine Tagung über Holocaust-Erinnerung am HKW erregte jüngst die Gemüter. Ein Vertreter des Zentralrats der Juden kritisierte sie im Bundestag. Eine Rückschau.

Druckwellen der Hijacking-Memory-Konferenz wirken noch nach. Die Tagung, die vor knapp einem Monat am Haus der Kulturen der Welt stattfand und sich mit der Erinnerung an den Holocaust und ihrer politischen Instrumentalisierung auseinandersetzte, startete mit einer Differenzierung: „Keine jüdische Person, nirgends, wird die reale Gefahr des Antisemitismus anzweifeln“, erklärte Susan Neiman, die Direktorin des Einstein-Forums und eine der drei Konferenz-Organisatorinnen. „Doch wir sind überzeugt, dass die Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs auf zynische Weise für nationalistische Zwecke eingesetzt wird.“
Letzteres schließt in den Augen der Organisatorinnen an eine größere Entwicklung an: „Wir haben beobachtet, dass rechte Akteure international, aber auch in Deutschland, das Gedenken an den Holocaust vereinnahmen, um nationalistische, xenophobe, rechtspopulistische Politik zu machen“, erklärte Emily Dische-Becker, ebenfalls Konferenz-Organisatorin, der Berliner Zeitung. Diese Agenda bedrohe inzwischen auch Juden selbst. „In den USA sehen wir eine offen antisemitische Rechte – Republikaner im Kongress verbreiten antisemitische Verschwörungstheorien. Gleichzeitig präsentieren sie sich als große Unterstützer Israels.“
Israel: ein deutscher Sehnsuchtsort
Dass ähnliche Muster sich auch im deutschen Kontext finden, ließ sich in den bestimmenden Kulturdebatten der vergangenen Jahre immer wieder beobachten. Wer Israel besonders tatkräftig unterstützt – so die polit-psychologische Logik, die von Hans-Georg Maaßens in Teile der deutschen Linken reicht –, präsentiert sich als historisch „geläutert“ und politisch unantastbar. Inwieweit diese Vorstellung womöglich auch einer Sehnsucht entspringt, eine tiefere Auseinandersetzung mit familiären Verstrickungen in NS-Verbrechen zu vermeiden? Dies war eine der Fragen, die auf der Hijacking-Memory-Konferenz diskutiert wurden.
Eine andere war die nach den Überschneidungen von Antisemitismus und Rassismus. Inwieweit ähneln sich diese Diskriminierungsformen? Worin unterscheiden sie sich? Weshalb werden sie in politischen Kontexten so häufig gegeneinander ausgespielt? Auch darüber, ob Antisemitismus und Rassismus historisch womöglich enger zusammengedacht werden müssten – wie das Erbe von Denkern wie James Baldwin und W. E. B. Du Bois nahelegt –, wurde nachgedacht.
Unter den Vortragenden waren überwiegend Jüdinnen und Juden – und auch Israelis. Die Panels wirkten für deutsche Verhältnisse ziemlich unkonventionell: So diskutierten etwa schon am ersten Konferenztag der Ex-EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit mit dem Kolumnisten Peter Beinart über Grenzen und Möglichkeiten der Zwei-Staaten-Lösung. Das Gespräch vereinte zwar nicht radikal neue Positionen. Für den (öffentlichen) deutschen Kontext wirkte das aber dennoch disruptiv: zwei konträre Haltungen zu Israel/Palästina auf einer Bühne, ganz ohne Antisemitismus-Verdacht. Susan Neiman wies nur halb scherzhaft darauf hin, dass die auf der Tagung getroffenen Aussagen in absehbarer Zeit aus dem Kontext gerissen und gegen diejenigen verwendet werden würden, die sie geäußert haben.
Antisemitismus-Vorwürfe ließen nicht lang auf sich warten
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis der Grünen-Politiker Volker Beck die Konferenz zum Anlass nahm, die staatliche Förderung des HKW infrage zu stellen. Weniger als zwei Wochen später erschien in der Tageszeitung Welt ein Text mit dem Titel „Haus der Kulturen: Ein Thinktank des neuen Antisemitismus“, der auf groteske Weise genau jene Fehlschlüsse wiederholte, die zu entlarven einige Teilnehmende der Konferenz angetreten waren: etwa die fragwürdige Ineinssetzung einer Kritik israelischer Politik mit Antisemitismus. Oder die in letzten Jahren von Springer forcierten Bemühungen, die Deutungshoheit über Antisemitismus gegen vermeintlich „Fremde“ auszuspielen.
Im Bundestagsausschuss für Kultur und Medien formulierte letztlich auch der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, explizite Kritik an Hijacking Memory. Auf der Konferenz seien „problematische, antisemitische Inhalte formuliert“ worden, sagte er. Es sei „zur Schoah-Relativierung gekommen“. Botmann forderte die Politikerinnen im Raum auf, „genauer hinzusehen“ und benannte neben dem HKW auch das von Neiman geleitete Einstein-Forum sowie das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA), dessen Direktorin Stefanie Schüler-Springorum die Konferenz ebenfalls mit organisiert hat: „Das sind drei Chefs, die glauben, dass das Wort BDS nicht so problematisch ist“, sagte Botmann, „genau an diesen Orten finden dann oft antisemitische Dinge statt.“
Botmanns Kommentare reimten sich auf prägnante Weise mit den insinuierenden Nachfragen der CDU-Fraktion, ob Vertreterinnen der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit in die Documenta-Vorgespräche eingebunden waren, sowie mit der Forderung der AfD, „Förderung des Postkolonialismus umgehend einstellen“ zu wollen. In einem entsprechenden AfD-Folgeantrag hieß es, „der Postkolonialismus“ dürfe nicht länger Maßstab „unserer Kultur- und Erinnerungspolitik“ sein. Postkolonialismus – so die These, die ähnlich zuvor bereits in der FAZ formuliert worden war – sei „inhärent antisemitisch“. Das HKW bietet sogenannten postkolonialen Ansätzen seit Jahren eine prominente Plattform und wird dies mit dem Folgeintendant Bonaventure Ndikung sicher auch weiterhin tun.
In einem auf Botmanns Aussagen reagierenden Brief des ZfA an Zentralrats-Präsident Josef Schuster war daraufhin von „Diffamierung“ und „Angriffen auf die Integrität“ der Institutsleiterin Schüler-Springorum die Rede. In Briefen des renommierten und jüngst emeritierten Geschichtsprofessors Michael Wildt an Innenministerin Nancy Faeser, Kulturstaatsministerin Claudia Roth und weitere Ministerien heißt es, mit Botmanns Forderung einer staatlichen Überprüfung des HKW, ZfA und Einstein-Forums sei „eine Grenze überschritten“ worden. Diese Briefe liegen der Berliner Zeitung vor.

Ein nicht unwesentlicher Eklat auf Hijacking Memory
All dem vorausgegangen war ein nicht unerheblicher Eklat innerhalb der Konferenz selbst. Am letzten Konferenztag – der auf den Samstag folgte, an dem der britisch-palästinensische Autor Tareq Baconi seinen Vortrag gehalten hatte – verlasen der polnische Historiker Jan Grabowski und der polnische Journalist Konstanty Gebert eine Erklärung, in der sie Baconi für seine Aussagen rügten.
Grabowski und Gebert nannten Baconi „fehl am Platz“ auf einer Konferenz, die sich mit Holocaust-Erinnerung beschäftigt. Seine Rede, erklärten sie, hätte durch einen Vertreter der israelischen Botschaft ausgeglichen werden müssen. Die zwei Männer beanstandeten besonders Baconis Verwendung der Worte „Apartheid“ und „kolonial“ zur Beschreibung der israelischen Situation (Worte, wie sie bisweilen auch seitens israelischer NGOs wie B‘tselem verwendet werden). Grabowski und Gerbert warfen Baconi zudem vor, Israel „Kindermörder“ genannt zu haben.
Baconi war in seinem Vortrag direkter als andere Redner auf „Silencing“ palästinensischer Stimmen eingegangen. Er skizzierte, wie sich die IHRA-Arbeitsdefinition des Antisemitismus in den Vorjahren zu einem politischen Instrument entwickelt hatte, Kritik an israelischer Besatzungspolitik effektiv zu unterbinden. In seiner Rede zählte er eine Liste Menschenrechtsverletzungen auf: etwa die Tötung von 243 Palästinensern, „darunter 67 Kinder“, während des Gaza-Kriegs im Mai 2021. Dass Baconi durch die Nennung jener Fakten die antijüdische, im Christentum verankerte Ritualmordlegende des „Kindermords“ evozieren wollte, ist nicht ersichtlich.
Dennoch: Baconis Vortrag war in den Augen einiger eine Provokation. Er war auch der einzige Redner, der eine Kritik an der generellen Ausrichtung der Konferenz äußerte. Zu lange, sagte er, seien Palästinenserinnen und Palästinenser in Gesprächen über Antisemitismus und Israel lediglich Kulisse gewesen. Manchmal habe er den Eindruck, sie seien „die Leinwand, auf der sich jüdische Psychodramen abspielen“. Baconi, so kommentierte Stefanie Schüler-Springorum diesen Teil seines Vortrags gegenüber der Berliner Zeitung, habe sich mit diesen Kommentaren nicht auf den Holocaust bezogen – „sondern auf Diskussionen, die im Rahmen der Konferenz gelaufen sind“.
Jan Grabowski und Konstanty Gebert
Grabowski und Gebert zuzuhören, wie sie ihr Statement vorlasen, war bemerkenswert. Grabowski selbst war für seine Forschung zur polnischen Kollaboration mit den Nazis in den letzten Jahren immer wieder Verleumdungsklagen und drohenden Anzeigen ausgesetzt. Polen verabschiedete 2018 ein Gesetz, das polnische Verantwortung für die von Nazis begangenen Verbrechen von sich weist und es zu einem zivilrechtlichen Vergehen erklärt, Polen derartige Verbrechen zuzuschreiben. Grabowski untersuchte etwa das Schicksal von Juden, die aus polnischen Gettos oder Lagern geflohen waren und dennoch oft umkamen, weil polnische Nichtjuden den Nazis halfen, sie zu finden. Wenige Jahre später legte er die historischen Verbindungen des polnischen Sicherheitsapparats zu den Nazis frei.
Grabowski und Gebert verhandelten in ihren Vorträgen, aus historischer wie aus journalistischer Perspektive, die Frage, wie Erinnerung an die Schoah in Polen heute verzerrt wird. Einige Besuchende kommentierten in Gesprächen später, dass das Statement sie überrascht hatte. Gerade wegen des politischen Drucks, der Grabowski und Gebert in Polen entgegenschlägt – und der Vergleichbarkeit ihrer Einschränkung von Redefreiheit zu der Baconis –, hätten sie eigentlich erwartet, dass gerade sie Baconis Perspektive gut nachvollziehen könnten. Schüler-Springorum hingegen äußerte Verständnis für Grabowskis und Geberts Statement: Die Konferenz habe gezeigt, wie unterschiedlich die Lage und Perspektive in ost- und west-europäischen Ländern sei, kommentierte sie.

In der Tageszeitung Welt erschien kurz nach der Konferenz ein Interview mit Grabowski, in dem er ernst zu nehmende Sorge über wachsenden Antisemitismus zum Ausdruck brachte. Gleichzeitig äußerte er sein Entsetzen darüber, dass mitten in Berlin „200 Vertreter der deutschen Intelligenzija“ saßen und „enthusiastisch applaudierten, als Israel als Kindermörder, die Holocaust-Debatte als ‚jüdisches Psychodrama‘ bezeichnet wurde“. In diesem Kontext nicht ohne einen gewissen Beigeschmack: Über die Repressalien, die Grabowski in Polen erfuhr, ist in der Welt nicht berichtet worden.
„Wir sind entsetzt über verleumderische Vorwürfe“
Jüngst erschien in der Berliner Zeitung – als Reaktion auf die teils diffamierende Kritik der Hijacking-Memory-Konferenz und beteiligter Institutionen – ein offener Brief, der von 24 Vortragenden mitunterzeichnet worden war. Darin kritisierten etwa Daniel Cohn-Bendit, Miriam Rürup, Eva Menasse und auch Tareq Baconi den Versuch, die Konferenz als antisemitische oder als antiisraelische Veranstaltung zu zeichnen. „Wir sind entsetzt von dem Schwall an verleumderischen Vorwürfen aus unterschiedlichen Richtungen“, heißt es, „darunter auch deutsche Medien und staatliche Stellen“.
Inzwischen liegt ein weiteres Statement von Grabowski und Gebert vor, in dem sie zwar an der Kritik Baconis festhalten, sich aber „bestürzt“ darüber zeigen, was aus ihrem ursprünglichen Statement gemacht wurde. Botmanns Aussagen im Kulturausschuss widersprechen sie deutlich: Keine der Organisatorinnen habe „problematische antisemitische Inhalte“, „Schoah-Relativierung“ oder Sympathien für BDS geäußert. Grabowski und Gebert bekräftigen ihre Wertschätzung für das Einstein-Forum und Neiman. Sowie für „den Beitrag des Hauses der Kulturen der Welt und des Zentrums für Antisemitismusforschung bei der Organisation unserer Konferenz.“ Das Statement war am Sonntag mit Bitte um Veröffentlichung bei der Tageszeitung Welt eingegangen. Publiziert wurde es bisher nicht.
Innerhalb der Konferenz schienen sich letztlich zwei Lager aufzutun, die sich – grob vereinfacht – als Ost- und West-Perspektive beschreiben lassen: Auf der einen Seite das Lager Grabowski und Gebert, deren Kritik an zeitgenössischer Erinnerungspolitik in erster Linie auf den Revisionismus der osteuropäischen Rechten abzielte. Und auf der anderen Seite das Lager derer, die aufzeigen wollten, wie das Beharren auf historischer Unvergleichbarkeit heute zu einem politischen Mittel geworden war, das einerseits die israelische Politik vor Kritik abschirmt und andererseits palästinensische Stimmen aus dem Diskurs ausschließt.
Was die zwei Lager letztlich eint, ist die explizite Verwahrung gegen die pauschale Diffamierung der Konferenz, ihrer Inhalte und ihrer Macherinnen in deutschen Medien und parlamentarischen Ausschüssen. Was die Diskussion im Nachgang der Konferenz auf fast performative Weise zeigte, war die Beschränktheit deutscher Debatten über Antisemitismus, Rassismus und Israel/Palästina. Eine Beschränktheit, vor deren Hintergrund Hijacking Memory eine besondere – womöglich historische – Ausnahme bildete.