Herr Schlögel, haben Sie angesichts der Vorgänge in der Ukraine für die Putin-Versteher in Deutschland Verständnis?
Ich mache mir meinen Reim darauf. Es ist eine Mischung aus ganz vielen Dingen, die hier hereinspielt. Zum einen ist es die Erinnerung an den Krieg, das Gefühl von Schuld wegen dem, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist. Dazu zählt auch die Angst, in den ruhigen und geordneten Verhältnissen, die sich ergeben haben, gestört zu werden. Eine Vogel-Strauß-Politik, den Kopf in den Sand stecken. Ebenso ein Moment von Feigheit. Und es ist eine ganze Menge Kitsch, was die deutsch-russischen Beziehungen angeht. Es ist auch Ahnungslosigkeit.
Schwingt denn da immer noch etwas vom Denken alter deutscher Eliten mit, was die Orientierung am zaristischen Russland angeht?
Wenn man in die Diskussion der letzten Wochen blickt, dann war das – zum Beispiel in den Talkshows – immer nur eine Diskussion zwischen Deutschen und Russen. Eigentlich nie präsent war dagegen die Stimme derjenigen, um die es geht und die betroffen sind, nämlich der Ukrainer selbst. Obwohl es nicht an Menschen mangelt, die sich artikulieren können. Diese spontane und fast selbstverständliche Abwesenheit der Ukrainer ist skandalös und empörend. Das ist eine Haltung, die in Deutschland eine sehr, sehr schlimme Tradition hat, man braucht nur ins 20. Jahrhundert hineinzugehen, um sich das vor Augen zu führen.
Was haben Sie da im Sinn?
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Erstens 1939 den Hitler-Stalin-Pakt oder Molotow-Ribbentrop-Vertrag, die mit Berufung darauf, den Frieden in Europa zu retten, über Osteuropa entschieden und es in Einflusssphären aufgeteilt hatten. Und es ist unter den radikal veränderten Verhältnissen des Kalten Krieges auch in der Zeit der Detente nach 1968, nach dem Einmarsch in Prag so gewesen, als man meinte, eine Entspannungspolitik meinte machen zu können, die nur mit Moskau ausgehandelt wurde und man über den Kopf der anderen hinweg, beispielsweise Polen, agiert hat.
Und nun umarmt auch noch Bundeskanzler Schröder seinen Freund Putin.
Man weiß ja, dass Gerhard Schröder sehr viel von der Treue gegenüber Freunden hält. Es ist seine Sache, wen er zum Freund hat. Aber dem Kriegsherrn um den Hals zu fallen, in dem Augenblick, wo jemand wie der selbsternannte Bürgermeister von Slawjansk, der gewiss mit Putins Wissen agiert, OECD-Beobachter als Kriegsgefangene betrachtet und der Europäischen Union Bedingungen stellt, das ist ein sehr starkes Stück. Gerade für jemanden, der Bundeskanzler gewesen ist.
Sind die Deutschen auf einen Propaganda-Trick des Kreml hereingefallen, der ja behauptet hat, auf dem Majdan wimmle es von Faschisten und Nationalisten?
Es gibt genügend Reporter und Augenzeugen, die belegen, dass es nicht so war. Wer tatsächlich auf dem Majdan war, das waren hauptsächlich Menschen, die genug hatten von den korrupten Zuständen des Janukowitsch-Regimes. Dass sie so diszipliniert waren und so lange ausgehalten haben und das Land diesen Protest mitgetragen hat, ist ein großartiges Beispiel für diesen Widerstand. Dass dann in dem Augenblick, in dem sie angegriffen worden sind, radikale Kräfte in die Vorderhand gekommen sind und der rechte Sektor eine Rolle gespielt hat, ist völlig unbestreitbar. Aber die revolutionäre Bewegung auf dem Majdan als faschistisch und antisemitisch zu diffamieren, ist einfach lachhaft. Im Übrigen sollte man sich in Deutschland vielleicht einmal mit der intellektuellen und ideologischen Umgebung von Putin beschäftigen, wo sich seit langem Leute mit neoimperialen, völkischen und tatsächlich faschistischen Auffassungen bewegen.
Wo würden Sie Putins Denken und Weltsicht verorten?
Ich weiß darüber zu wenig. Aber offensichtlich hat er ein starkes Interesse an der Ausarbeitung einer neuen Version von „Russischer Idee“. Das ist ja auch kein Wunder in einer Gesellschaft, der eine feste Orientierung abhanden gekommen ist. Es scheint so, dass Iwan Iljin, ein Anfang der 20er-Jahre aus Russland ausgewiesener Philosoph, der bis Ende der 30er-Jahre in Deutschland gelebt hat, für ihn wichtig ist. Aber auch Alexander Dugin, ein Ideologe des Neu-Eurasismus und Nationalbolschewismus, der seit langem an der Vernetzung der russischen Rechten mit der europäischen Rechten arbeitet, hat Zugang zu Fernsehkanälen, Akademien und zur Präsidialadministration.
Was treibt Putin zu einem so abenteuerlichen Unternehmen an?
Es ist offenbar einfacher, eine Militäroperation durchzuführen, als dieses große Land nach einem Jahrhundert kompletter Erschöpfung wieder auf die Beine zu bringen und zu modernisieren. Die Annexion der Krim ist in gewisser Weise eine Ersatzhandlung, Kompensation für das Scheitern einer fälligen Modernisierung nach der Auflösung der Sowjetunion.
Was erwarten Sie nun in der Ukraine, sind die Eskalationsmechanismen noch zu stoppen?
Ich weiß es nicht und ich behaupte, niemand weiß, wie es weitergehen wird. Ich war erst vor kurzem in den ostukrainischen Städten, und was mich wirklich mit Erstaunen, ja Bewunderung erfüllt hat, war, wie ruhig, gelassen und selbstdiszipliniert die Bevölkerung in Donezk, Odessa und Mariupol dem Treiben von frei herumschweifenden Rebellen und Berufsprovokateuren gegenübertritt. Es ist fast nicht zu verstehen, dass das normale Leben weitergeht und die besetzten Verwaltungsgebäude fast wie isolierte Inseln in den Städten aussehen. Das kann sich natürlich jeden Tag ändern, weil diese Leute bewaffnet und bereit sind, jede Provokation einzugehen und die Situation zum Kippen zu bringen. Das ist angesichts der angespannten Situation kein Kunststück.
Wie ist das Verhältnis zwischen den Ukrainern und den russisch-stämmigen Menschen im Land?
Erstens ist diese vor Wochen hochgespielte Frage der Diskriminierung von Russen vor allem durch die Sprache ein Phantom. Es gibt in der östlichen Ukraine überhaupt kein wirkliches Sprachproblem, weil in den großen Städten überall Russisch gesprochen wird. Das Ukrainische kommt ins Spiel, wenn es um amtliche Verfahren geht, wenn man ein Haus baut, heiratet oder eine Genehmigung braucht. Aber es gibt kein ernsthaftes Sprachproblem. Das ist ein hochgespieltes, ausgedachtes und manipuliertes Problem. Wenn überhaupt, gibt es in den östlichen Städten eine Diskriminierung des Ukrainischen als einer Minderheitensprache und nicht umgekehrt.
Und zweitens?
Es handelt sich nicht um „Russen“! Das muss man in Deutschland endlich auch kapieren. Es sind ukrainische Staatsbürger russischer Sprache. Bereits diese Übernahme der Putin’schen Diktion, dass es sich um Russen handelt, ist im Grunde eine völkische Interpretation, die die Existenz der Staatsnation Ukraine negiert. Putin hat ja auch immer von „russkij mir“, von der „russischen Welt“ gesprochen. Demnach ist Russland überall, wo russischsprachige Menschen leben, auch im Baltikum zum Beispiel. Das ist einfach falsch. Es sind estnische, lettische, litauische Staatsbürger mit russischer Sprache und russischer Herkunft. Und wenn man das in Deutschland nicht akzeptiert und immer davon redet, dass es sich um Russen handelt, dann ist das die Anerkennung des Rechts Russlands auf Intervention und die Antizipation der Teilung der Ukraine.
Wie kann der Westen dem Land helfen?
Das Wichtigste wäre, zu zeigen, dass man bereit ist Widerstand zu leisten und die eigenen Positionen zu verteidigen gegenüber einer Aggression, die nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern auch sprachlich-rhetorisch vorgetragen wird. Ich halte die Rede von Sanktionen nicht für richtig, denn es geht um etwas viel Grundlegenderes, um Selbstverteidigungsmaßnahmen und nicht um Bestrafung und Heraufsetzung des Preises für Putin, der über die bisher verkündeten Sanktionen vorerst nur lacht. In gewisser Weise ist die Verteidigung der Ukrainer, der Integrität der Ukraine, auch die Verteidigung Europas. Es würde bedeuten, den leichten Sieg, den Putin errungen hat, nämlich die Spaltung der Europäer und die Spaltung der Europäer von den Amerikanern, zu vereiteln. Das Zusammenhalten gegenüber der Provokation, das Nichtzurückweichen ist das Wichtigste.
Das Gespräch führte Michael Hesse.