Ich will der Ukraine helfen, aber ich habe Angst um meinen Wohlstand
Unser Autor unterstützt den Freiheitskampf der Ukraine. Doch dann denkt er an die ökonomischen Konsequenzen und schreckt zurück. Eine innere Abrechnung.

Eine Menge Argumente werden noch immer zusammengetragen dafür, dass Deutschland nicht aktiv auf russisches Gas verzichten oder schwere Waffen in die Ukraine schicken dürfe, um den Überlebenskampf der Ukrainerinnen und Ukrainer zu unterstützen. Unvorhersehbare ökonomische und damit gesellschaftliche Folgen hierzulande, ja in der gesamten EU und im ganzen Westen würde das haben. Den Menschen vor Ort würde es ohnehin mehr schaden als nützen, die Lieferung von schweren Waffen könnte zudem als Eingriff in den Krieg gewertet werden, was seine Ausweitung zu einem Weltkrieg zur Folge haben könne.
Es ist ein historisches Dilemma, vor dem Europa angesichts des Krieges steht. Zur Wahl steht, bei den von Putins Armee verübten Menschheitsverbrechen untätig zuzuschauen – oder Gefahr zu laufen, dass ein wirklich substanzielles und kriegsentscheidendes Eingreifen potentiell zu einer viel höheren Zahl von Menschenopfern in ganz Europa führen könnte, mit der Möglichkeit einer atomaren Eskalation und der totalen Auslöschung des Kontinents.
Die Angst vor dem Atomkrieg
Bundeskanzler Scholz belässt es seit Wochen dabei, zu versichern, wie leidenschaftlich die deutsche Regierung auf der Seite der Ukrainer stehe, wie sehr wir Europäer an ihrem Schicksal teilhätten und wie bedingungslos die Verteidiger der Freiheit dort im Osten auf die unbedingte Unterstützung Deutschlands zählen könnten. Waffen werden indes nur in homöopathischen Dosen geliefert, gerade genug, damit Putin versteht: Wir müssen das machen, um nicht das Gesicht als Demokraten zu verlieren, aber bitte werte das nicht als echte, konkrete, wirksame Parteinahme!
Alle Argumente, die darauf abzielen, ein wirklich wirkungsvolles Eingreifen in den europäischen Vernichtungskrieg unserer Tage zu verhindern, sind dem Habitus ihres Vorgetragen-Werdens nach Argumente der Vernunft, der Vorausberechnung von Ursache und Wirkung, der vermeintlichen Kenntnis von ökonomischen und gesellschaftlichen globalen Prozessen, der Produktion und der Lieferketten, der Soziologie und Wirtschaftspsychologie und nicht zuletzt auch der Psychologie von Konfliktspiralen, an deren Ende ein globaler Atomkrieg steht.

Leere Geschäfte, bankrottgehende Firmen und Großunternehmen
Man sei praktisch durch die Vernunft geradezu dazu gezwungen, so die Argumente vieler Politikerinnen und Intellektuellen, am Wohlstand und an einer passiven Haltung zum Krieg festzuhalten, will heißen, an der Sicherheit von Industrie- und Handelsnetzen sowie von Menschenleben hierzulande. Da müsse man die Opferzahlen ohne und mit substanziellem Engagement leider global und nicht nur auf die Ukraine bezogen gegeneinander aufrechnen.
Leere Geschäfte, bankrottgehende Firmen und Großunternehmen, Wohnungskündigungen, die Verarmung von Familien, eine sprunghafte Verschärfung von sozialen Konflikten, Erfolge populistischer Kräfte, der endgültige Zerfall der westlichen Demokratien ... Einen Rückgang des Wohlstands in Deutschland könne doch niemand wollen, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine müsse – das sei unsere historische Verantwortung – lokal gehalten und gewissermaßen isoliert, quarantänisiert werden.
Die ungewisse Zukunft und die Stabilität
Und so versucht man sich hier, wo die Geschäfte voll sind und der Sommerurlaub ansteht, auf irgendeine Weise täglich zu beruhigen – und in den Medien findet man, wenn auch inzwischen seltener, immer wieder eine Grundlage dafür. Die militärische Situation sei nämlich überraschend ausgewogen, die ukrainische Verteidigung mache immer wieder Boden gut. Als deutscher medialer „Kriegsteilnehmer“ suche auch ich täglich nach Meldungen, die auf Erfolge der Ukraine hinweisen, ich lechze nach Berichten, in denen ein ukrainischer Bauer mit seinem Traktor einen russischen Panzer abschleppt. Nach dem Lesen eines solchen Berichts lehne ich mich zurück, bin vorerst beruhigt.
Die Bilder von der zerstörten Stadt Mariupol oder dem Massenmord in Butscha, von Familienvätern oder Studierenden der Informatik oder Literaturwissenschaft in Donezk, die plötzlich in Helm und mit Kalaschnikow im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen und uns hier in Deutschland während unseres Durch-die-Meldungen-Scrollens kurz anschauen, bevor dann kaputte russische Panzer an uns vorbeiziehen; oder eine weinende alte Frau aus Düsseldorf, die uns verdeutlicht, dass der Krieg ja auch in uns alte Traumata weckt, dass auch wir ja jetzt leiden – all diese Artikel und Video-Echtzeit-Reportagen, all das echte Leid der gerade real und in echt sterbenden Menschen, konkreter Menschen –, noch immer dienen sie vielen zur Überzeugung, dass der Krieg eingegrenzt werden müsse, dass man sich sogar in der Frage eines Verzichts auf russisches Gas lieber passiv verhalten, lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen sollte.
Weil schon jetzt das Benzin über zwei Euro pro Liter kostet, das Olivenöl um 15 Prozent im Preis gestiegen ist, die Heizkosten in drei Monaten unbezahlbar werden könnten. Und bald nach dem Abdrehen des russischen Gashahns würde die chemische Industrie kein Ammoniak oder keinen Harnstoff mehr herstellen können und in weiterer Folge die Verpackungsindustrie oder die Stahlindustrie in Nöte geraten, und am Ende würde auch die eigene Arbeit nichts mehr einbringen, und als allererstes, so meine ganz persönliche Befürchtung, die eines bürgerlichen Schriftstellers, der von der friedlichen Normalität abhängig ist, in der die Menschen die Ruhe und die Mittel haben, Bücher zu kaufen und zu lesen.
Im Krieg sollte kein Mensch leben müssen
Ganz zu schweigen von den Folgen, die eine mögliche Ausweitung des Krieges für unser aller Leben hätte. Regelmäßig paralysiert auch mich die Angst davor, was es bedeuten könnte, wenn die Nato plötzlich den Kriegsfall ausrufen muss.
Die Argumente der Vernunft konkurrieren gegen ein simples Gefühl: Ich will nicht, dass die Menschen in Mariupol oder in Kiew oder in Luhansk sterben. Ich will nicht, dass ein faschistisches System Schulen und Krankenhäuser bombardiert. Dass russische Soldaten Studierende, Bauern, Versicherungsvertreterinnen, Informatiker, Schulkinder, Start-up-Gründerinnen, Rentner und Gebärende erschießen – auf der Straße, in ihrer Wohnung, auf einer Autobahn, in einem Supermarkt.
Ich will nicht, dass ein faschistischer Diktator ein demokratisches Land angreift und versucht, es sich untertan zu machen, den Menschen dort ein Regime der Angst aufzwingt, sie in ein Leben des vorauseilenden Gehorsams und der Überwachung, der Medienzensur und der pseudoreligiösen Ideologie knechtet und sie bei Gegenwehr auslöscht. Ich will das nicht, sagt dieses Gefühl, weil ich selbst niemals in eine solche Situation geraten oder meine Kinder, Familie und Freunde in einer solchen Situation sehen will. So sollte kein Mensch leben müssen.
Die Geschichte von Maksymilian Kolbe
Der Widerspruch zwischen den „vernünftigen“ Argumenten, die einem die nachteiligen Folgen des Verzichts auf Putins Gas oder von substantiellen Lieferungen von schweren Waffen in die Ukraine vor Augen führen und diesem einfachen emphatischen Gefühl könnte als ein Grundkonflikt der Menschlichkeit bezeichnet werden, als das Grundproblem der menschlichen Existenz auf diesem Planeten.
Die Energie, mit der Vernunftargumente gegen das simple Gefühl des Mitleidens vorgetragen werden, scheint von einem Ort im Menschen zu kommen, an dem eine unversiegbare Energiequelle existiert und in einer Situation, wie wir sie heute in Europa wieder erleben müssen, gegen Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein anarbeitet. Und nur wenige Menschen können genug Kraft aufbringen, sich gegen diese Energie, die sich oft in rationalen und „realistischen“ Sprechweisen Bahn bricht, zu stemmen. An dem Ort, den ich meine, sitzt die Angst um die eigene, ganz persönliche Sicherheit.
Ein Extrembeispiel für einen Menschen, der sich dieser Angst widersetzte, war der Priester Maksymilian Kolbe, der im August 1941 im deutschen Konzentrationslager Auschwitz freiwillig den Platz des Mithäftlings Franciszek Gajowniczek im Hungerbunker einnahm, um den um Gnade flehenden Familienvater zu retten, nachdem dieser willkürlich mit einer Gruppe von Häftlingen zur Bestrafung für die Flucht eines anderen Häftlings ausgewählt worden war. Am 14. August 1941 wurde Maksymilian Kolbe, weil er noch nicht verhungert war, durch eine Phenolspritze ermordet. Gajowniczek überlebte das Konzentrationslager und starb in den 1990er-Jahren im polnischen Brzeg.
Der Kampf gegen den Faschismus
Wie wäre der Zweite Weltkrieg ausgegangen, wenn es solche Menschen wie Maksymilian Kolbe nicht gegeben hätte? Oder die Geschwister Scholl? Oder zahlreiche andere, deren Namen wir nicht kennen, die jedoch ihre Leben gelassen haben im Kampf gegen den Faschismus? Waren denn der Warschauer Aufstand oder der Aufstand im Warschauer Ghetto, die Hunderttausende Menschenleben kosteten und blutig niedergeschlagen wurden, umsonst, haben sie nur die Opferzahlen erhöht? Oder waren die Widerstandsakte am Ende vielleicht psychologisch ausschlaggebend, weil sie anderen Menschen den Glauben gaben, dass es auf der Welt vielleicht doch auch das Gute gibt?
Täglich starre ich dieser Tage auf den Bildschirm, und mein Gefühl sagt mir: Kauft kein Gas mehr von der Gesellschaft im Zeichen des Z! Greift in den Krieg ein und liefert endlich die Waffen, die eine Veränderung der Lage an der Front bewirken können, anstatt nur schön mitmenschlich engagiert zu reden! Rettet diejenigen, die noch zu retten sind! Aber dann – allein, wenn ich an ein Versiegen des Gasflusses denke – treibt mich die geheimnisvoll unversiegbare Energiequelle in mir dazu an, diejenigen Artikel im Internet aufzurufen, die von der aktuellen ökonomischen Lage sprechen. Will ich die Teuerung? Den Zusammenbruch der Lieferketten? Das Ende meines Lebens, wie ich es bisher kannte?
Das, was dort im Osten geschieht, ist ja nicht unser Krieg, oder?
Und wenn ich an die Menschen in diesem Land denke, die schon heute dazu gezwungen sind, ihr Haushaltseinkommen mit Hartz IV aufzustocken, um ihren Kindern ein minimal würdevolles Aufwachsen zu ermöglichen, die täglich acht bis zwölf Stunden in Pflege-, Dienstleistungs- oder Einzelhandelsberufen tätig sind; wenn ich daran denke, was die Inflation und der Zusammenbruch der globalisierten kapitalistischen Ökonomie, wie wir sie in den letzten 30 Jahren kannten, bedeuten würden, welche neuen Ängste diese Menschen umtreiben und welche Konflikte in Europa dadurch verschärft werden würden, die Putin übrigens schon seit Jahren nutzen, dann denke ich: Nun ja, natürlich muss man das bei der Diskussion um den Verzicht auf russisches Gas und die Unterstützung der Ukraine mit wirklich substanziellen Waffenlieferungen alles mitbedenken, man muss die Situation rational und global betrachten.
Und so drängt sich sofort der Gedanke auf, der unter allem schönen Gerede des Westens von der großen Solidarität mit der Ukraine der eigentlich alles bestimmende ist, auch wenn ihn niemand aussprechen will: Das, was dort im Osten geschieht, ist ja nicht unser Krieg – wollen wir eine Eskalation riskieren? Wollen wir für die Freiheit anderer unsere Sicherheit aufs Spiel setzen?
Wir können alles sehen, beobachten, wissen
Was bedeutet es eigentlich, wenn man von historischer Verantwortung spricht? Bieten die Verbrechen, die gerade jetzt, in dieser historischen Gegenwart, nur wenige Autostunden von der deutschen Grenze entfernt, an der Bevölkerung eines demokratischen Staates verübt werden, Europa nicht schon genug Anlass, sich der Verantwortung zu stellen?
Für Maksymilian Kolbe muss sich auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers Auschwitz die Situation ähnlich dargestellt haben, wie sie sich heute dem Westen darstellt: Das Leben des anderen gegen meine eigene Sicherheit. Sein Einsatz war jedoch wesentlich höher, denn sein konkretes Leben stand ganz unmittelbar auf dem Spiel. Er stand dort auf der Erde, im Staub auf dem Platz. Alles konnte er sehen, wie es vor seinen Augen geschah.
Für uns geschieht „es“ heute in den sozialen Medien, im Fernsehen, in den Zeitungen. Aber auch wir können alles sehen. Es ist da, und wir wissen, dass es geschieht.
Odysseus als Prototyp des europäischen Bürgers
Seit ein paar Wochen kommt mir immer wieder – sowohl angesichts des Verhaltens der deutschen Regierung und vieler deutscher Intellektueller als auch meiner eigenen Angst vor der Ausweitung des Krieges (denn ich nehme mich da keinesfalls aus, auch ich gehöre zum schweigenden, hadernden Bürgertum dieses Landes) – das Bild des bürgerlichen Menschen in den Sinn, wie ihn Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben haben. In den Überlegungen Horkheimers und Adornos wird Odysseus als der Prototyp des europäischen Bürgers betrachtet.
Als seine Begleiter und er auf ihrer Irrfahrt an den Klippen der Insel vorbeisegelten, auf denen die Sirenen saßen und die Seefahrer mit ihrem Gesang in den Tod lockten, ließ der listige Held sich an den Mast binden, seine Mannschaft aber sollte sich die Ohren verstopfen und weiterrudern. So war es ihm möglich, sich dem Gesang der Sirenen hinzugeben, ohne Gefahr zu laufen, verrückt zu werden und sich ins Wasser zu stürzen. Er konnte dem gefährlichen Konzert lauschen und die Gefühle, die es in ihm auslöste, auf sich einwirken lassen, von ihnen sogar betroffen sein, ohne selbst in den Abgrund gezogen zu werden. Für ihn war der Gesang entschärft, in Form gebracht, reines Konsumgut – so dauerte der gefühlte Schreck nicht lang, Odysseus saß gewissermaßen im Warmen, konnte sich zurücklehnen.
Opfer des eigenen Lebens
In Dostojewskis Roman „Brüder Karamasow“ gibt es eine Szene, in der ein Gespräch zwischen einem Großinquisitor der katholischen Kirche und Jesus beschrieben wird. Jesus ist zur Zeit der Inquisition auf die Erde zurückgekehrt, um die Seelen der Menschen zu retten. Er will jedoch, dass sie aus freien Stücken an ihn glauben, ohne dass er vermittels übernatürlicher Wunder seine Göttlichkeit und die Existenz des Paradieses beweisen muss. Ohne das sichere Versprechen auf eine Errettung vom Tod sollen die Menschen in seinem Sinne handeln, was bedeuten würde, im Diesseits Opfer auf sich zu nehmen, vielleicht sogar das Opfer des eigenen Lebens, um anderen zu helfen, ohne sich des Paradieses als Belohnung dafür sicher sein zu können.
Aber die Menschen interessieren sich nicht für ihn, sie folgen lieber der Kirche und den Inquisitoren, die ihnen von Wundern erzählen und hier und jetzt Brot geben, ihnen ein diesseitiges Leben in Sicherheit bieten. Der Großinquisitor lässt Jesus ins Gefängnis werfen und sagt zu ihm: „Das Ende wird sein, dass sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und uns sagen: Macht uns zu euren Knechten, aber macht uns satt! Sie werden endlich einsehen, dass Freiheit und irdisches Brot, ausreichend für alle, unvereinbar sind, denn niemals, niemals werden sie lernen, miteinander zu teilen.“
Das Hadern des Westens wird von der Geschichte gerichtet werden
Miteinander teilen bedeutet, anderen etwas abzugeben, oder auch: etwas für andere aufzugeben. Im Extremfall, wie dem von Maksymilian Kolbe, das eigene Leben. In unserem etwas weniger extremen Fall den Wohlstand und die Sicherheit, wie wir sie bisher kannten. Der Großinquisitor sagt: Niemals werden sie es tun! Er hat, heute dort in Moskau sitzend, vermutlich recht. Seit Jahren schon. Und baut er nicht darauf, dass es so bleiben wird? Dass er auch in Zukunft tun kann, was er will, ohne Konsequenzen?
Das Hadern des Westens wird von der Geschichte gerichtet werden, davon können wir schon heute ausgehen. Die leeren Reden von Solidarität und unbedingter Unterstützung, die wir gerade alle schnell und selbstverständlich auf den Lippen haben, werden als das entlarvt werden, was sie sind. Den Menschen in der Ukraine wird das nichts nützen. So gesehen befinden wir uns eigentlich in gar keinem großen Dilemma. Wir entscheiden uns ja jeden Tag für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit, für unsere bequeme Normalität. Es fällt uns lediglich ein bisschen schwer, moralisch betrachtet.
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