"In meinem Kopf ein Universum": Ein Mensch ist kein Gemüse
Der Junge ist Gemüse – auf diese brutale Kernaussage läuft die Einschätzung der Ärztin hinaus. Der kleine Mateusz leidet an einer zerebralen Bewegungsstörung und ist nicht in der Lage, seinen Körper zu kontrollieren. Er kann weder greifen, sitzen, gehen noch sprechen. „Gemüse.“ Wie muss sich eine Mutter fühlen, wenn sie das zu hören bekommt? Und wie erst der Betroffene, der sehr wohl alles versteht.
Es sind sein wacher Geist, sein Durchhaltevermögen und die liebevolle Zuwendung einer Handvoll Menschen, die Mateusz innerlich aufrecht halten. Ungeachtet des ärztlichen Rats geben die Eltern ihren Sohn nicht in eine Einrichtung, sondern ziehen ihn daheim groß – fast so, als wäre er ein Kind wie jedes andere. Seine Schwester schwankt zwischen Abscheu, Hilflosigkeit und Eifersucht. Doch die Mutter spricht geduldig mit Mateusz, schiebt ihn im Rollstuhl und gibt ihrem Jungen alle Pflege und Zuneigung. Sein Vater, ein Arbeiter, den Mateusz als Zauberer vergöttert, weiht ihn in die Geheimnisse des Mannseins ein und erklärt ihm die Sterne.
Über die Jahre lernt Mateusz immer wieder aufgeschlossene Menschen kennen, aber auch solche, die sich ihm gegenüber grausam verhalten. Eines Tages, so schwört er sich , werde ich euch zeigen, wer ich wirklich bin. Doch als Mateusz dann erwachsen ist, der Vater nicht mehr lebt, die Geschwister aus dem Haus sind und die Mutter gebrechlich wird, muss er in ein Heim für geistig Behinderte. Wie soll er sich herausmanövrieren aus dieser Sackgasse?
Außergewöhnliches Kinoerlebnis
Die Geschichte, die der polnische Drehbuchautor und Regisseur Maciej Pieprzyca hier über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren erzählt, wurde vom Leben inspiriert. Das Vorbild, Przemek, ist in einer kurzen Szene gegen Ende des Films zu sehen – gemeinsam mit dem Schauspieler Dawid Ogrodnik. Dessen mehrfach preisgekrönte Darstellung ist eines der Wunder dieses Films. Fast ist es ein Schock, wenn man Ogrodnik am Schluss sich ganz normal bewegen sieht. So überzeugend schlüpft er in die Rolle des Mateusz, windet sich spastisch und imitiert die mimischen und artikulatorischen Einschränkungen, dass man sicher ist, einen behinderten Menschen zu sehen. Auch Kamil Tkacz, der 2001 geborene Darsteller des kindlichen Mateusz, leistet hier schier Unglaubliches.
Doch nicht allein das Ensemble macht diesen Film zum außergewöhnlichen Kinoerlebnis – Pieprzyca balanciert auch souverän zwischen Drama und Komödie. Man ist berührt, aber es gibt keine forcierte Rührseligkeit oder aufgezwungene Betroffenheit. Ganz organisch wird man in die oft dokumentarisch anmutende Familiengeschichte verwickelt, leidet mit, empfindet Wut, hofft und muss vor allem oft lachen.
Der visuelle Stil wirkt zunächst nüchtern; dabei finden Regie und Kamera immer wieder originelle Bilder, die das Leben aus der Perspektive von Mateusz schildern. Der humorvolle Off-Kommentar des Protagonisten stellt eigene Sichtweisen infrage. So sympathisiert man etwa schnell mit einer Praktikantin, die sich aufopferungsvoll um Mateusz bemüht. Bis deutlich wird, aus welch eigennützigen und doch auch nachvollziehbaren Motiven heraus sie handelt. Nichts, so werden wir hier sanft, aber nachhaltig erinnert, muss so sein, wie es im ersten Moment scheint. Eindrücke können täuschen. Und ein Mensch ist kein Gemüse! Was auch immer im Inneren eines Anderen vorgeht, verdient Offenheit und Respekt.
In meinem Kopf ein Universum (Chce sie zyc) Polen 2013. Regie: Maciej Pieprzyca, Kameraa: Pawel Dyllus, Darsteller: Dawid Ogrodnik, Dorota Kolak, Arkadiusz Jakubik u. a.; 108 Minuten, Farbe. FSK ab 6.