Interview mit Historiker Norbert Frei: Worauf gründete sich die Hitler-Begisterung?
Norbert Frei zählt zu den angesehensten Geschichtswissenschaftlern in Deutschland. Neben seiner Lehrtätigkeit gehört er zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten und Kommissionen an. Seit 2005 ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Koebner Minerva Center for German History an der Hebrew University Jerusalem.
Herr Frei, Sie sind der Herausgeber einer neuen Reihe über „Die Deutschen und der Nationalsozialismus“. Was motiviert zu einer erneuten Erzählung über die NS-Zeit, da es doch schon so viele gibt?
Wir versuchen, unseren Lesern die in der Tat reichhaltigen Ergebnisse der Zeitgeschichtsschreibung auf der Höhe der Forschung, aber ohne den Ballast der Fachdiskussion zu präsentieren – und das Ganze mit der gebotenen Anschaulichkeit. Die NS-Forschung konnte jahrzehntelang im Bewusstsein schreiben, dass zumindest ein großer Teil der Leserschaft die Zeit miterlebt hatte. Bestimmte Details mussten – oder sollten – da gar nicht groß kommuniziert werden. Aber dieses erfahrungsgesättigte Mitdenken ist heute kaum mehr möglich. Die meisten Menschen, die heute leben, haben die NS-Zeit, wenn überhaupt, als Kinder erlebt. Insofern brauchen wir eine Form der Darstellung, die sehr viel mehr transportiert, als es die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus noch bis in die, sagen wir, 1990er-Jahre für nötig hielt.
Die Hitler-Begeisterung und der Erfolg der Nationalsozialisten sind ja nicht aus dem Nichts entstanden, sondern gewisse bestehende Strukturen wurden durch Hitler angesprochen. Welche waren das?
Die große Zustimmung ist vor allem darin begründet, dass viele mit den – um einen Begriff von Sebastian Haffner zu zitieren – rasch sich einstellenden ersten „Leistungen“ des Regimes sehr einverstanden waren. Nehmen Sie den wirtschaftlichen Aufschwung: Der war zwar keine genuine Leistung der Nationalsozialisten, denn Ende 1932 war die Talsohle der Weltwirtschaftskrise bereits durchschritten. Aber als die Erholung 1933 für jeden sichtbar wurde, hat das den Nationalsozialisten geholfen. Und eine wirklich clevere Propaganda hat den Eindruck sehr verstärkt, dass sich der Konjunkturaufschwung Hitlers Tatkraft verdankte. Oder nehmen Sie die verbreitete Geringschätzung der Weimarer Republik und die allgemeine Aversion gegen den Versailler Vertrag: Auch hier haben die ersten Maßnahmen und Erfolge des Regimes sehr viele Deutsche verblüffend schnell überzeugt.
In weiten Teilen des deutschen Bürgertums gab es eine Führersehnsucht?
.. und eine Sehnsucht nach Überwindung der Parteienrepublik, auch dem hat Hitler entsprochen. Insofern sind es nicht so sehr die harten Weltanschauungselemente des Nationalsozialismus, die in der Anfangsphase wachsende Zustimmung begründen. Sondern es ist diese volksgemeinschaftliche Aufbruchsstimmung, um derentwillen man auch Gewalt und Terror gegen Andersdenkende, die früh sichtbar gewesen sind, in Kauf nimmt.
Es gab aber auch Krisen in dieser Zeit, zum Beispiel die Fettkrise 1936. Für die Deutschen kein Problem?
Auch da waren die Nationalsozialisten Meister der Propaganda: Sie machten den Menschen die Margarine schmackhaft. Nicht, dass es kein Gemurre gegeben hätte – sogar mehr, als man das hinterher als Zeitgenosse vielleicht erinnert hat. Aber entscheidend war, dass das Gefühl vermittelt wurde, es geht aufwärts. Dass es also lohnte, gewisse Entbehrungen auf sich zu nehmen. Es war eben nicht allein die tatsächliche Lohnerhöhung, die konkret eintretende Besserstellung, die Attraktivität begründete, sondern es war die Aussicht auf eine bessere Zukunft, die viele für das Regime eingenommen hat.
War Hitler ein starker Führer?
Das ist eine alte Diskussion, die in der Geschichtswissenschaft geführt worden ist – und eine überholte Fragestellung. Denn es ist evident, wie erfolgreich die im Grunde höchst moderne Inszenierung der Figur des „Führers“ war. Insofern war die Wirkungsmacht der Figur in jedem Fall stark. Evident ist weiterhin, dass zentrale Bereiche der Politik – die Außenpolitik, die Judenpolitik – ohne Hitler in dieser Zuspitzung nicht funktioniert hätten.
Ohne Hitler hätte es den Holocaust nicht gegeben?
In diesem Sinn hat es Ian Kershaw, wie ich finde überzeugend, in seiner zweibändigen Hitler-Biografie auf den Punkt gebracht. Es hätte auch ohne Hitler eine brutale antijüdische Politik gegeben, das lag im Trend der Zeit. Aber man hätte sich wohl „zufrieden“ gegeben mit einer „Lösung der Judenfrage“ auf der Ebene von Diskriminierung, Ausplünderung und Vertreibung.
Wenn wir nun etwas kontrafaktische Geschichte betreiben: Was wäre passiert, wenn Hitler 1941 die Sowjetunion nicht angegriffen hätte? Bis dahin hat er fast ganz Kontinentaleuropa beherrscht.
Wenn wir das strukturgeschichtlich betrachten, lässt sich sagen, dass dieses Regime keinen Haltepunkt finden konnte. Das war ja auch der große Irrtum der alten Eliten, die Hitler 1933 zur Kanzlerschaft verholfen hatten: Sie wurden von seiner Dynamik hinweggespült. Bekanntlich hat es die NSDAP aus eigener Kraft nicht an die Macht geschafft. Hätte man Hitler im Januar 1933 – nachdem die NS-Bewegung den Gipfelpunkt ihres Erfolgs bereits überschritten hatte – nicht noch den Weg geebnet, dann wäre den Deutschen und der Welt Vieles erspart geblieben.
Sehen Sie heute Ähnlichkeiten mit gegenwärtigen europäischen rechten Parteien? Ist so etwas wie der Nationalsozialismus wiederholbar?
Der 70. Jahrestag des Kriegsendes ist ein guter Anlass, sich klarzumachen: 1945 hat eine unwahrscheinliche Koalition – die liberalen Demokratien des Westens im Verbund mit der Sowjetunion – eine singuläre Bedrohung beendet. Mit dem Nationalsozialismus fertig zu werden, darum ging es. Die Niederringung des deutschen Faschismus, aber natürlich auch seiner europäischen und japanischen Verwandten – das war das Projekt, das an sich antagonistische Mächte in der sogenannten Anti-Hitler-Koalition zusammengebracht hatte.
Blickt man auf das Ende, 1945, wundert man sich, wie energisch die Deutschen gegen die Alliierten gekämpft haben. Richard von Weizsäcker sprach von der Befreiung – aber historisch gesehen wurde bis zum letzten Tag gekämpft.
Die Tatsache, dass das selbst die amerikanischen und britischen Flächenbombardements nicht verhindern konnten, ist letztlich die Bestätigung für die Richtigkeit der alliierten Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation. Die Deutschen haben buchstäblich bis zur letzten Sekunde gekämpft – natürlich auch, weil im letzten Kriegsjahr der Druck von Seiten des Regimes immer stärker wurde. Angesichts einer SS und Gestapo, die aus dem Osten zurückkamen und ihren Terror im Reichsinnern fortsetzten, musste mit dem Schlimmsten rechnen, wer zu früh die weiße Fahne aus dem Fenster hängte.
Aber war da nur die Angst vor dem eigenen Regime?
Die Deutschen taten sich auch schwer, Abschied zu nehmen von ihrem geliebten „Führer“. Nehmen Sie die Situation nach dem 20. Juli 1944: Da ist das Erschrecken groß, dass es dieser „ehrlosen Clique“ gelungen war, ein Attentat auf den „Führer“ zu verüben. Und die „Meldungen aus dem Reich“ bezeugen glaubhaft die Erleichterung in weiten Kreisen der Volksgemeinschaft darüber, dass dieser Versuch gescheitert ist.
Man staunt, dass erst 1944 der Versuch unternommen wurde, Hitler zu stürzen. Zudem waren Staufenberg und Mitstreiter keine Demokraten.
Diese Debatte wurde schon in den 1960er-Jahren geführt. Seitdem ist klar, dass vom 20. Juli keine direkte Linie zur Demokratie der Bundesrepublik führt, wie sie sich seit 1949 entfaltet hat. Aber die Tatsache, dass der Umsturz versucht worden ist, wenn auch zu später Stunde, verdient unsere Anerkennung; gerade beim Kreisauer Kreis beruhte der Entschluss zur Tat auf klaren moralisch-ethischen Prinzipien.
Man spricht in der Nachkriegszeit vom deutschen Wirtschaftswunder. Dabei waren die industriellen Produktionsmöglichkeiten besser in Takt, als viele es dachten, wie US-Ökonomen sehr schnell feststellten.
Mit dem Begriff des Wirtschaftswunders ist es so eine Sache. Bald nach 1933 sprach man vom NS-Wirtschaftswunder, obwohl es im Kern nur ein Rüstungsboom war. Der Boom der Nachkriegszeit hingegen verdankte sich den Notwendigkeiten der Rekonstruktion, auch wenn die Zerstörungen der industriellen Infrastruktur weniger dramatisch waren, als es zunächst ausgesehen hatte. Dank Hilfsprogrammen wie dem Marshall-Plan und äußeren Faktoren wie dem Korea-Boom ging es dann aber in der Tat überraschend schnell bergauf und es begannen die „trente glorieuses“ – ein drei Jahrzehnte anhaltender Rekonstruktionsboom, der nicht nur Westdeutschland, sondern ganz Westeuropa erfasste.
Was verwundert ist, mit welcher Geschwindigkeit aus den Deutschen, die sich mit der Diktatur arrangierten oder dies mussten, plötzlich ein Volk von Demokraten wurde – ganz anders als nach dem Ersten Weltkrieg.
Tatsächlich sind die Geschwindigkeit und die relative Rückfalllosigkeit, mit der im Westen der Weg in die Demokratie beschritten wurde, immer noch ein Staunen wert. Ich glaube aber, dass man dafür einige gute Erklärungen finden kann: Zum einen waren der totale moralische Bankrott und die Totalität der politischen Niederlage, anders als 1918, für jedermann klar erkennbar. Das sind zwei wichtige Faktoren. Nichts von dem, was politisch bis zum Frühjahr 1945 galt, war zukunftsfähig. Das erkannten doch die meisten Deutschen, auch wenn sich manche damit schwertaten. Daher auch die rasche Bereitschaft, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Damit waren natürlich jede Menge Lügen und Beschönigungen verbunden, aber für den Erfolg einer neuen Ordnung ist diese Distanzierung bedeutsam. Zum anderen kam hinzu, dass die Amerikaner in Westdeutschland präsent blieben – militärisch und politisch, materiell und ideell. Die Generation der „Flakhelfer“ nahm diese Angebote einer politisch-intellektuellen Neuorientierung bereitwillig an – und die vormaligen NS-Funktionseliten krempeln die Ärmel hoch, um den Wiederaufbau voranzubringen.
Das Gespräch führte Michael Hesse.