Interview: Wir sind im Zentrum des Hurrikans
Er ist auf eine angenehme Art raumgreifend. „Hello, this looks like a Coffee-Klatch to me“, flötet Steven Spielberg in breiten amerikanischen Singsang, als er in das Zimmer eines Pariser Luxus-Hotels an den Champs Elysées schreitet. Er setzt sich zu unserer kleinen Journalisten-Gruppe an den Tisch, faltet die Hände, sagt: „Wo wir gerade über Kaffee reden, könnte ich bitte eine Tasse heißen Tee bekommen?“ Alle lachen. Der erfolgreichste Regisseur aller Zeiten versteht es, Menschen für sich einzunehmen. Ein paar „Eisbrecher“ zum Einstieg, immer wieder ein freundliches Lächeln, der 64-Jährige legt keinen Wert auf formelle Begrüßungsrituale, wie man sie vielleicht von einem der mächtigsten Männer Hollywoods erwarten würde. Ab heute ist sein neuer Film „Die Abenteuer von Tim und Struppi“, die Adaption der Comics des legendären Hergé, in den Kinos zu sehen.
Mr. Spielberg, Sie waren mehrere Jahre bei den Pfadfindern …
Ja, 1958 kam ich zu den Boy Scouts in Scottsdale, Arizona, war dann sechs Jahre dabei. Am Ende habe ich es bis zum Eagle Scout gebracht.
Die wichtigste und höchste Stufe unter den Boy Scouts. Beherrschen Sie noch ein paar Pfadfinder-Überlebenstechniken?
Ich könnte Ihnen jetzt ohne groß nachdenken zu müssen alle möglichen Knoten-Techniken vorführen – Palstek oder Mastwurf. Ich bin nach wie vor ziemlich gut in Erster Hilfe. Und ich kann aus zwei Stöcken ein Lagerfeuer entfachen. Meine Zeit bei den Pfadfindern müssen Sie sich so vorstellen wie die TV-Serie „Survivor“. Ich habe eine Miniatur-Version davon gelebt.
Aber es ging nie ernsthaft ums Überleben in Extremsituationen, oder?
Doch. Immer am Wochenende. Da schickten sie uns irgendwo ins Nirgendwo, in die Wüste Arizonas. Da mussten wir alleine klar kommen, lernen zu überleben.
Sie sind 2001 zwar aus Protest gegen die Diskriminierung von Homosexuellen aus dem Beratungsausschuss der US-Pfadfinder ausgetreten. Aber Ihre Jahre bei den Boy Scouts haben ihre Arbeit immer wieder beeinflusst, was sich nicht nur an den Pfadfinder-Einsätzen in Filmen von „Indiana Jones“ zeigt. Wie sehr hat Sie diese Zeit geprägt?
Bei den Pfadfindern lernte ich gewisse Werte schätzen: Denk erst an andere, dann an dich selbst. Das sind Wertvorstellungen, die mich mein ganzes Leben begleitet haben. Die Pfadfinder haben mir darüber hinaus ein besseres Verständnis meiner Nation vermittelt. Sie haben mich gelehrt, die Gemeinschaft, in der ich lebte, zu schätzen, mich ermutigt, mich für das Gemeinwohl zu engagieren. In diesem Sinn waren die Boy Scouts für mich eine der großartigsten Erfahrungen. Von meiner Mum und meinem Dad mal abgesehen, hatten die Pfadfinder wahrscheinlich den größten Einfluss auf mein Leben.
Der belgische Comic-Künstler Hergé, dessen „Tim und Struppi“-Abenteuer Sie jetzt verfilmt haben, war noch als 20-Jähriger bei den Pfadfindern. Hatten Sie mit ihm auch darüber gesprochen, als Sie kurz vor seinem Tod 1983 mit ihm sprachen?
Leider nein. Wir haben ja nur am Telefon miteinander gesprochen, da blieb für solche Themen nicht genug Zeit. Aber ich wette, hätten wir uns je persönlich getroffen, hätten wir sehr lange über unsere Zeit bei den Pfadfindern gesprochen.
Der rasende Reporter Tim vereinigt in sich, wie auch Ihr Kino-Held Indiana Jones, viele Pfadfinder-Eigenschaften. Er ist ein Überlebenskünstler, der Empathie zeigt. Sie haben in Bezug auf Tim mal von einer Reinheit dieses Helden gesprochen. Was hat Sie an dieser Figur so fasziniert?
Das Schöne an diesem Comic-Helden ist, dass er kein geheimes Leben hat. Er geht ganz und gar in seiner Arbeit auf, er ist von ihr regelrecht berauscht. Ständig ist er auf der Suche nach Abenteuern, nach der Lösung eines Mysteriums. Seine Reinheit besteht darin, dass er bei der Verfolgung seiner Ziele ehrlich und ernsthaft bleibt. Man muss solche Typen bewundern.
Fehlen Ihnen solche Helden im Kino?
Sie sind sehr rar. Viele Kinohelden von heute müssen doch vor allem auf möglichst vielen Ebenen verrückt und bizarr sein. Mein Eindruck ist, dass man sie mit immer mehr abstrusen Eigenschaften ausstattet.
Sie haben den Comic-Helden Tim nun mit dem sogenannten „Motion-Capture“-Verfahren zum Leben erweckt, bei dem Mimik und Bewegungen von realen Schauspielern in den Computer übermittelt und dort zu digitalen Kunstfiguren geformt werden. Ihr Kollege James Cameron hat oft geklagt, wie mühselig es gewesen sei, den computergenerierten Kunstwesen in „Avatar“ den richtigen Gesichtsausdruck zu geben. Sie hatten dazu noch das Problem, legendäre Comic-Gesichter, die wie Ikonen, wie Marken wirken, in völlig neue Kunstgeschöpfe umwandeln zu müssen – ohne dabei Ihren Charakter zu verändern. Wie haben Sie diese Klippe überwunden?
Ich gestehe: Wir hatten vor drei Jahren einen toten Punkt erreicht. Mir schien, dass alle unserer Figuren einen menschlichen Ausdruck hatten – bis auf Tim. All diese karikaturhaften Figuren aus den Comics wirkten in unseren computergenerierten Versionen kurioserweise sehr realistisch. Nur bei Tim klappte es nicht. Wir haben festgestellt, dass bei Tim, der von Jamie Bell gespielt wird, bestimmte Muskelgruppen unter seiner Maske nicht stark genug bewegt wurden.
Bei den Dreharbeiten trugen die Schauspieler Masken mit reflektierenden Punkten sowie einen Footballhelm mit Kamera, die jede ihrer Bewegungen aufnimmt.
Ja. Wir haben die Maske dann neu geformt, es war Versuch und Irrtum. Ständig. Aber während dieses Prozesses sah der digitale Tim dann immer realistischer aus. Es war eine ähnliche Verwandlung wie bei Pinocchio – von der Holzpuppe zu einem menschlichen Jungen.
Wohin wird diese neue Art, Schauspieler und Landschaften zu inszenieren, führen? Wie wird diese Technik das Kino und die Art, wie wir Filme wahrnehmen, verändern?
Dank dieser neuen Technologien gibt es wahrscheinlich für jede noch so abstruse Vorstellung, die irgendwo in meinem Kopf herumschwirrt, eine Möglichkeit, sie auf die Leinwand zu bringen. Aber diese technischen Effekte sollten nie der Grund sein, warum wir uns Filme anschauen. Sie sollen uns helfen, Geschichten zu erzählen. Oft besteht jedoch die Gefahr, gerade bei großen Produktionen, einen Film mit Effekten vollzustopfen. Dabei bleiben die Zeichnungen der Charaktere auf der Strecke. Das Gespür für das Geschichtenerzählen geht verloren. Weil du ständig von diesem „Wow“-Effekt, den diese Filme haben, abgelenkt wirst.
Das sind aber auch Geister, die Sie riefen – beispielsweise mit bis dahin nie gesehenen Saurier-Bildern in Filmen wie „Jurassic Park“.
Ich versuche aber in meinen großen Produktionen immer eine Balance zu finden. Zwischen den Charakteren, die eine Handlung prägen, und den Effekten. Effekte müssen die Handlung unterstützen, sie sollten nicht der Grund dafür sein, sich eine Kinokarte zu kaufen. Aber Sie haben Recht: Unglücklichweise werden viele Filme heute wegen der Effekte gemacht. Aber ich möchte noch einen anderen Aspekt dieser neuen Technologien ansprechen. So weit sie uns auch gebracht haben, haben sie bisher nicht die Art und Weise verändert, wie wir Filme wahrnehmen und präsentieren.
Was schwebt Ihnen da vor?
Trotz der neuen Technik projezieren wir nach wie vor Bilder auf eine flache Oberfläche, also eine Leinwand. Bei 3-D wird es im Prinzip auch so gemacht, nur tragen wir spezielle Brillen, um es dreidimensional wahrzunehmen. Mir schwebt etwas anderes vor: Stellen Sie sich vor, wie es wäre, uns mit der Film-Erfahrung zu umgeben, mit den Geschichten, den Menschen, die darin spielen. Wohin Sie schauen, sind Sie von der Geschichte umgeben. Wir sind im Zentrum des Hurrikans, mittendrin in der Vision eines anderen. Dahin wird uns die Technologie führen.
So impulsiv wie Sie das gerade vortragen, fragen wir uns, ob Ihnen das Angst macht oder ob es Sie begeistert?
Ich würde es lieben, solche Filme zu machen.
Mr. Spielberg, Sie arbeitet nun schon seit mehreren Jahrzehnten in Ihrem engsten Kreis mit den gleichen Menschen zusammen, wie dem Komponisten John Williams oder der Produzentin Kathleen Kennedy. Nicken Ihre langjährigen Weggefährten dann alles ab, was Sie sagen?
Manchmal kommt es vor, in einer Teamarbeit, in meinem eigenen Leben, dass mich Freunde, immer mit den besten Absichten, aus dem Spiel nehmen. Ich brauche dann immer ein bisschen Zeit herauszufinden, ob sie Recht hatten oder nicht. Manchmal sehe ich aber auch, der Fehler, den mir einige ankreideten, war letztlich gar keiner.
Fällte es Ihnen schwer, Fehler einzugestehen?
Nein, ich bin immer der erste, der sagt: „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Das ist mir lieber, als dass mich jemand darauf aufmerksam macht. Da trete ich lieber vor und sage: „Ok, ich hab’s vermasselt, ich war furchtbar.“
Sie haben in Ihrem Beruf mehr erreicht als jeder andere, wurden zweimal mit dem Oscar für die beste Regie ausgezeichnet und immer wieder haben Sie Ihre eigenen Zuschauer-Rekorde gebrochen. Was treibt Sie immer wieder an?
Meinen Sie, ich sollte kürzer treten? Dass es in meinem Alte an der Zeit wäre, meinen Output einzuschränken? Warum sollte ich keine Filme mehr machen?
So war das nicht gemeint.
Ich weiß, war ja nur Spaß. Ich habe dem großen Kurosawa diese Frage selbst mal gestellt, als ich ihn traf. Er war damals 75. Ich wollte von ihm genau das wissen, was Sie jetzt von mir wissen wollen: „Was hat Sie all diese Jahre immer wieder angetrieben?“ Er sagte nur: „Ich mache Filme. Das ist alles, was ich kann.“ Diese Antwort hat mir immer sehr gefallen. Und obwohl ich selbst mehr mache als Regie zu führen, gefällt mir Kurosawas Sicht – dass Filmemachen das Einzige war, was er konnte. Filmemachen ist für mich immer Auf- und Anregung zugleich. Am Ende eines Films mag ich erschöpft sein. Dann stehe ich unter der Dusche, und habe schon wieder eine neue Idee. Urplötzlich ist die Erschöpfung weg. Und ich stehe wieder am Anfang mit all meinem Enthusiasmus. Diese Idee in meinem Kopf, die Aussicht an einem neuen Drehbuch zu arbeiten – das treibt mich an. Immer wieder.