Israelische Autorin zu Documenta: Antisemitismus-Streit verdeckt Wichtigeres

Auf der Documenta wurde ein antisemitisches Bild entdeckt. Warum das wichtige Debatten verdeckt, die die Schau aufwerfen wollte, erklärt eine Haaretz-Autorin

Nach Antisemitismusvorwürfen gegen die Kunstausstellung Documenta fifteen wird eines der gezeigten Werke verhüllt. Davor protestiert eine proisraelische Demonstrantin.
Nach Antisemitismusvorwürfen gegen die Kunstausstellung Documenta fifteen wird eines der gezeigten Werke verhüllt. Davor protestiert eine proisraelische Demonstrantin.epd

Auf Indonesisch bedeutet „Taring Padi“ so viel wie: die scharfe Kante des Reiskorns. So nannte eine Gruppe Kunststudentinnen und Aktivisten aus Yogyakarta, Indonesien, die 1998 begann zusammenzuarbeiten, das von ihnen begründete People-Oriented Cultural Institute, das wenige Jahre später zum Kunstkollektiv wurde.

Während des Übergangs Indonesiens von Suhartos Militärdiktatur, der das Land über 30 Jahre grausam regiert hatte, versuchte Taring Padi dort auf die staatliche und soziale Instabilität zu reagieren. Die scharfe Kante des Reiskorns ist in Indonesien eine geläufige Metapher für etwas Kleines, Lästiges, Juckendes, in jedem Fall Unbequemes. Dementsprechend war das Ziel des Kollektivs, das sprichwörtliche Reiskorn im Schuh oder Auge der Politiker und der Gesellschaft Indonesiens zu sein. Und so dafür zu sorgen, dass das diktatorische Regime nie zurückkehren würde.

Taring Padi reagierten auf Indonesiens Instabilität

Mehr als 20 Jahre später sorgte dieses kleine Reiskorn für einen internationalen politischen Skandal, mit dem die Mitglieder des Kollektivs selbst nicht gerechnet hatten. Als Linke, die sich gegen Kapitalismus, Rassismus und religiösen Fundamentalismus aussprechen, werden sie in ihrem Land noch heute von islamistischen Organisationen angegriffen. Dagegen wurden sie auf der Documenta 15 in Kassel zu Antisemiten erklärt und gezwungen, das Werk „People’s Justice“ zu entfernen, das gegenüber dem Fridericianum im Kasseler Stadtzentrum ausgestellt war.

Die Documenta entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Stadt unweit der Grenze, die West- und Ostdeutschland trennte. Eins der erklärten Ziele der Documenta war es, nach Jahren der Verfolgung von Avantgarde-Künstlern in der NS-Herrschaft die Möglichkeit freier Kunst in Deutschland wiederherzustellen. „People’s Justice“ ist ein riesiges Gemälde voller kleiner Bilder. Das Werk entstand 2002 und befasst sich mit Suhartos Militärdiktatur, die sich zur Beseitigung politischer Gegner von Sicherheitskräften verschiedener Länder – darunter USA und Israel – unterstützen ließ.

Klare Unterteilung in Gut und Böse

In den an mehreren Orten in Kassel ausgestellten Gemälden Taring Padis wird zwischen Gut und Böse klar unterteilt: Die Bösen, meist Westmächte, werden als Indikatoren von Tod, Raub und Ausbeutung dargestellt, in Form von Totenschädeln, als Satans- oder Schweinsfiguren. Eines der Gemälde zeigt ein in eine US-Flagge eingehülltes Schwein. Die Guten dagegen sind einfache Leute: unschuldige Menschen, die unter der erdrückenden Herrschaft von Waffen und Geld niederknien.

Es muss viel Mühe gekostet haben, in der Bilderflut, die „People’s Justice“ ist, das eine antisemitische Bild auszumachen. Dennoch: Es ist da, es lässt sich nicht leugnen – in Form einer als ultraorthodoxer Jude verkleideten Figur mit Schläfenlocken, spitzen Zähnen und einem SS-Emblem am Hut. Es ist ein wirres und zugleich auch verwirrendes Bild, das Juden mit ihren Mördern gleichsetzt. Dieses antisemitische Bild und die Figur eines Soldaten mit dem Wort „Mossad“ am Helm und einem Schal mit Davidstern um den Hals lieferten genug Stoff für diejenigen, die seit Monaten versuchten zu beweisen, dass die Documenta 15 von Antisemiten kuratiert wird.

Es dauerte nur zwei Tage nach Eröffnung, bis Taring Padis Gemälde abgedeckt und vollständig entfernt wurde. Ein Akt, der selbst zu einer Art Performance wurde und zahlreiche Zuschauer anzog. Als Reaktion auf die Vorwürfe gaben Taring Padis Mitglieder eine entschuldigende Erklärung ab, die auf der Documenta-Website veröffentlicht wurde.

Taring Padi entschuldigten sich

Bezüglich der aggressiven Figuren, zu denen auch die mit dem Davidstern und Mossad-Helm gehörte, schrieb Taring Padi: „Das Bild entstand vor dem Hintergrund der schwierigen Lebensbedingungen, die wir unter einer Militärdiktatur erfahren hatten, in der Gewalt, Ausbeutung und Zensur an der Tagesordnung waren.“ Taring Padi sei ein progressives Kollektiv, das versuche, Vielfalt zu respektieren. „Die von uns verwendete Bildsprache ist nie aus Hass gegen eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe entstanden“, hieß es, „sondern als Kritik an Militarismus und staatlicher Gewalt.“

Worin bestand also die Intention? Taring Padis Mitglieder stimmten einem Interview  nicht zu und beriefen sich stattdessen auf ihre Erklärung. Als Kollektiv, heißt es dort, übernähmen sie Gesamtverantwortung für die Handlungen jedes Individuums der Gruppe. Ein interessantes Detail: Das antisemitische Bild stammt von einem inzwischen verstorbenen Taring-Padi-Mitgründer. Ohne die Möglichkeit, ihn zu fragen, bleibt das tatsächliche Motiv der Bildwahl – sei es bloße Ignoranz oder doch bewusster Antisemitismus – verborgen.

Im Falle Israels, so zeigt sich, ist die Bezeichnung „globaler Süden“ offenbar keine rein geografische Definition – sondern eine Kategorie eines Machtverhältnisses.

Shany Littman

Widerstand war im Voraus bekannt

Auch Ruangrupa sind bekanntlich ein indonesisches Künstlerkollektiv. Kollektive Kunst ist in Indonesien sehr beliebt, viel beliebter als das Ethos des individualistischen Künstlers des sogenannten Westens.

Ruangrupa erklärte, dass sie die Documenta nach dem „Lumbung-Prinzip“ kuratieren. Auf Indonesisch meint das so viel wie eine „Reisscheune“: sprich, eine Genossenschaftsstruktur in den landwirtschaftlichen Gegenden Indonesiens, wo die Ernte gesammelt, gelagert und nach gemeinsam ermittelten Kriterien unter den Gemeindemitgliedern aufgeteilt wird. Der Ausgangspunkt der Documenta, erklärte Ruangrupa, seien Prinzipien der Kollektivität und gerechten Ressourcenverteilung.

Ruangrupa entschied sich daher, nur kollektiv arbeitende Künstler:innen zu zeigen. Die meisten von ihnen entstammen dem sogenannten globalen Süden – sprich, Ländern, die unter Besatzung, Kolonialismus und repressiven Regimen litten oder noch leiden – sowie unter politischer Gewalt und wirtschaftlicher Not. Andere auf der Documenta vertretene Kollektive repräsentieren etwa verfolgte Gruppen wie Sinti und Roma. Es gibt auch ein palästinensisches oder etwa ein japanisches Kollektiv, die sich mit der Unterdrückung von Palästinensern befassen.

Ruangrupa: Kollektives Arbeiten und BDS

Das kollektive Arbeiten ist keine bloß formale Wahl, sondern auch eine Wertaussage. Das kollaborative Modell sollte der Kunst eine sozialere, gemeinschaftlichere und gerechtere Rolle verleihen, schreiben Ruangrupa in ihrer Absichtserklärung. Anstatt sie auf Künstler zu verengen, die ihre Werke auf einen kapitalistischen Markt bringen, wo sie in erster Linie als Konsumprodukt und Statussymbol fungieren – sowie als wirtschaftliche Investition.

Entgegen der Behauptung in manchen Medienberichten stellte sich heraus, dass es auf der Documenta auch Künstlerinnen aus Israel gibt – etwa Jumana Emil Abboud, eine in Schefar’am, östlich von Haifa, geborene Palästinenserin, die in Jerusalem lebt und ihren Kunstabschluss an der israelischen Kunstakademie Bezalel gemacht hat. Im Falle Israels, so zeigt sich, ist die Bezeichnung „globaler Süden“ offenbar keine rein geografische Definition – sondern eine Kategorie eines Machtverhältnisses.

Ruangrupa hat in der Vergangenheit auch BDS unterstützt, eine palästinensische Kampagne, die einen kulturellen, wirtschaftlichen und akademischen Boykott Israels fordert. Im Mai 2019 wurde im Deutschen Bundestag ein Beschluss gefasst, der BDS als antisemitische Bewegung definierte. Vor diesem Hintergrund rief die Wahl Ruangrupas, die Documenta zu kuratieren, sofort Organisationen auf den Plan, die den Umgang mit Israel in der deutschen Öffentlichkeit kritisch beobachten – darunter auch der Zentralrat der Juden in Deutschland. Man begann zu zählen, wie viele jüdisch-israelische Künstler auf die Documenta 15 eingeladen waren. Und stellte fest, die Antwort lautet: null.

Ruangrupa, v. l. n. r.: Reza Afisina, Indra Ameng, Farid Rakun, Daniella Fitria Praptono, Iswanto Hartono, Ajeng Nurul Aini, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Mirwan Andan
Ruangrupa, v. l. n. r.: Reza Afisina, Indra Ameng, Farid Rakun, Daniella Fitria Praptono, Iswanto Hartono, Ajeng Nurul Aini, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Mirwan AndanJin PJin Panjianji

Keine jüdisch-israelischen Künstler auf der Documenta

Letzteres wurde Ruangrupa dann als Kulturboykott gegen Israel ausgelegt. Dabei wurde jedoch ignoriert, dass andere Künstler oder Kollektive aus zahlreichen anderen Ländern auch schlichtweg deshalb nicht eingeladen wurden, weil sie nicht ins anvisierte Profil – globaler Süden – passten.

Um den Verdacht auszuräumen, der gegen Ruangrupa formuliert wurde, beschloss das Kollektiv, die Event-Reihe „We Need to Talk“ abzuhalten, welche „die Rolle der Kunst und künstlerischer Freiheit angesichts zunehmendem Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie“ verhandeln sollte. Juden, Muslime und Deutsche sollten teilnehmen. Doch etwa anderthalb Monate vor dem offiziellen Start der Documenta wurde die Serie auf Druck jüdischer Organisationen eingestellt. Es hieß, sie sei nicht ausgewogen genug.

Eingeladen war unter anderem Professor Omri Boehm, Chair des Department of Philosophy an der New School in New York, ein auch in Deutschland lehrender Israeli, der jüngst das Buch „Israel – eine Utopie“ veröffentlicht hat. Die Documenta, sagt er, sei aus dem Wunsch heraus entstanden, sich dem globalen Süden zu öffnen und das, was einst als marginal galt, ins Zentrum zu rücken. Der derzeit beobachtbare Wertekonflikt sei damit quasi vorherbestimmt gewesen.

„Kritik an Israel ist in jener Sphäre künstlerischen Schaffens und Denkens, die als globaler Süden bekannt ist, eine wichtiges Thema“, sagt Boehm. „In dieser Sphäre arbeiten Menschen, denen Solidarität mit Palästinensern und deren offene Äußerung wichtig sind. Auf der anderen Seite darf Deutschland seine Geschichte mit den Juden und das daraus resultierende Bekenntnis zu Israel nicht ignorieren, und kann sich dem sogenannten globalen Süden nicht vollständig öffnen. Es ist im Grunde ein Konflikt zwischen dem, was man als Post-Holocaust und Postkolonialismus bezeichnen könnte. Jede Seite hat ihre eigenen Opfer, die in ihren Augen heiliger wirken. In Deutschland ist es nicht wirklich möglich, eine Ausstellung zu machen, die lauthals und ungestört mit der Stimme des globalen Südens spricht. Es ist ein Diskurs, der in Deutschland nicht wirklich als legitim durchgeht. Dementsprechend ist er hier explodiert.“

Ist, was hier gezeigt wurde, Kunst?

Eine weitere Frage, die sich bei der Wahl der Kollektive stellt, ist, inwieweit die hier gezeigten Objekte sich überhaupt eignen, als Kunst bezeichnet zu werden. Viele der Werke enthalten sehr lange Texte, die man während eines Museums- oder Galeriebesuchs kaum wirklich lesen kann. Einige der Arbeiten dokumentieren Prozesse, die anderswo stattgefunden haben. Beispielsweise Community-Arbeit mit Jugendlichen in einem Vorort von Nairobi.

Oft wirkt es, als hätten diejenigen, die entschieden, die Arbeiten zu präsentieren, nicht über die Menge an Informationen nachgedacht, die sie einer nicht weiter vertrauten Betrachterin dabei über örtliche Gegebenheiten und Problemstellungen vermitteln wollen. Manchmal wirkt die Verbindung zu den zu den Kollektiven gehörenden Künstlern auch regelrecht forciert. Womöglich ist das Wort „Kunst“ in seiner ursprünglichen Bedeutung schlicht nicht wirklich geeignet, die Erfahrungen oder Ergebnisse jener kollektiven Arbeit zu beschreiben.

Das macht das Ergebnis zwar keineswegs weniger gut oder weniger wichtig. Aber es macht einen doch stutzig, ob diese Ausstellung in ihrer jetzigen Form tatsächlich der optimale Weg ist, jene kollektiven Werke zu konsumieren. Welche Art von Kunst entsteht im Kollektiv? Womöglich sind es schlichtweg andere Kunstformen, für die wir ganz andere Namen finden müssen – anstatt zu versuchen, sie in den klassisch-europäischen Kunstbegriff zu drängen.

Selbst wenn die auf der Documenta 15 präsentierte Kunst nicht sonderlich charismatisch oder interessant sein mag – und selbst wenn es keine „Kunst“ im klassischen Sinn des Wortes ist –, sind die Fragen, die diese Ausstellung aufwirft, zweifellos essenziell wichtig. Es ist höchste Zeit, sie zu diskutieren. Leider wirkt es, als würden diese Fragen in Deutschland momentan in jener Staubwolke untergehen, die der Skandal um die als antiisraelisch und antisemitisch empfundenen Bilder aufgewirbelt hat.

Aus dem Hebräischen von Hanno Hauenstein. Dieser Beitrag erschien zuerst in der israelischen Tageszeitung Haaretz.