Israelischer Jurist: So einen Lynch-Mord wie in Huwara haben wir noch nie gesehen

Israel steht eine historische Justizreform bevor. Gleichzeitig plant die Regierung, das Westjordanland zu annektieren. Ein Gespräch mit einem Rechtsexperten.

03.03.2023, Palästinensische Gebiete, Huwara: Demonstranten aus Israel und Palästina nehmen an einer Kundgebung in der Stadt Huwara teil, um ihre Solidarität zu bekunden.
03.03.2023, Palästinensische Gebiete, Huwara: Demonstranten aus Israel und Palästina nehmen an einer Kundgebung in der Stadt Huwara teil, um ihre Solidarität zu bekunden.dpa

Fast unmittelbar nach ihrer Machtübernahme im Dezember letzten Jahres leitete die rechtsextreme Koalition unter Benjamin Netanjahu eine umstrittene Revision der Befugnisse des Obersten Gerichtshofs in Israel in die Wege. Das Oberste Gericht gilt seit Jahrzehnten als entscheidende Kontrollinstanz der israelischen Demokratie. In den letzten Monaten demonstrierten Abertausende Israelis wöchentlich gegen diesen Prozess, der in Israel oft als „legaler Putsch“ beschrieben wird.

Parallel eskaliert die Gewalt im Westjordanland. Nachdem ein palästinensischer Attentäter zwei israelische Siedler erschoss, brannten radikalisierte Siedler in Huwara palästinensische Häuser und Autos nieder. Israels Finanzminister Bezalel Smotrich legitimierte die Gewalt im Nachgang. Nachdem ihm die Befugnisse über die Verwaltung des palästinensischen Westjordanlandes übertragen wurden, fürchten Beobachter eine De-jure-Annexion und eine dritte Intifada.

Wie sind diese Entwicklungen einzuordnen? Und was ist von Netanjahus Deutschland-Besuch zu erwarten? Wir sprachen mit dem israelischen Rechtsexperten und Menschenrechtsanwalt Dan Yakir.

Berliner Zeitung: Herr Yakir, Sie sind der bei Association for Civil Rights in Israel (ACRI) tätig. Worin besteht Ihre Arbeit?

Dan Yakir: ACRI ist die größte rechtsorientierte Menschenrechtsorganisation Israels. Uns ist es wichtig, die universellen Aspekte der Menschenrechte in den Blick zu nehmen. Wir befassen uns etwa mit dem Schutz der Rechte der palästinensischen Minderheit in Israel. Und natürlich mit Menschenrechtsverletzungen in den von Israel besetzten Gebieten, das ist eins unserer Hauptthemen. Wir sind in den Gerichten und in der Knesset, im israelischen Parlament, aktiv. Wir kommentieren dort in erster Linie Gesetzesvorlagen.

Israel hat seit einigen Monaten eine neue Regierung. Wo liegen in Ihren Augen die Unterschiede zur Vorgängerregierung?

Die Regierung vor der jetzigen hat einen eigentlich unhaltbaren Status quo aufrechterhalten. Dennoch: Mit Politikern wie Gideon Saar und Ayelet Shaked saßen Leute in der Regierung, die dasselbe wollten, was Netanjahu mit seinen rechtsextremen Partnern jetzt durchsetzen will. Auch sie befürworteten eine Annexion des Westjordanlands, nur nicht ganz so unverblümt. Für uns Israelis sind diese Tage ein Realitätscheck. Viele gehen für die Bewahrung einer Situation auf die Straße, die wir als Menschenrechtler ohnehin verändern wollen. Es ist wichtig zu verstehen: Der Rechtsputsch, den die Regierung in Israel plant, kann von der Besatzung und Annexion des Westjordanlands nicht getrennt betrachtet werden.

Die Justizreform bedroht aber auch innerhalb Israels die Demokratie. Können Sie erklären, inwiefern?

Die Rechtsrevolution hat mehrere Bestandteile. Einer ist die sogenannte Aufhebungsklausel. Ihr Sinn besteht darin, den Entscheidungsspielraum des Obersten Gerichts zu annullieren. Das Gericht hatte bislang die Befugnis, bestimmte von der Knesset verabschiedete Gesetze für grundgesetzwidrig zu erklären. Simcha Rotman, ein Knesset-Mitglied für die Nationale Union, der lange im Auftrag der Siedler gearbeitet hat, ist jetzt Vorsitzender des Justizausschusses. Anhörungen über die Bedrohung des Justizwesens hat Rotman jetzt einstellen lassen. 

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Foto: Assaf Pinchuk
Zur Person
Der Anwalt Dan Yakir ist seit 1982 bei ACRI aktiv. Seit 1995 ist er dort leitender Rechtsberater. Im Laufe der Jahre hat ACRI zu beispiellosen Erfolgen bei der Förderung der Menschenrechte in Israel-Palästina beigetragen. Zu den Fällen und Petitionen, bei denen Yakir ACRI vertrat, gehören Fälle gegen Folter, für die Registrierung der Eheschließung von im Ausland verheirateten homosexuellen Paaren sowie die Aufhebung einer britischen Mandats-Presse-Verordnung. 

Gibt es denn in Israel kein Grundgesetz, das solche Verhandlungen überflüssig machen würde?

In Israel haben wir aus historischen Gründen keine vollwertige, schriftlich verankerte Verfassung. Im Jahr 1950 wurde beschlossen, eine Art Grundrechtscharta – die sogenannten Basic Laws – zu erlassen, die zu einer vollwertigen Verfassung zusammengefasst werden sollten. Bis 1992 wurden nur sechs solcher Rechte erlassen. Im Gegensatz zu Verfassungen und Menschenrechtschartas anderer Länder, die in der Regel um die 40 Gesetze abdecken, sind die Basic Laws im israelischen Rechtssystem nicht fest verankert. Sie können theoretisch mit einer einfachen Mehrheit der Knesset gekippt werden. Hier kommt die Aufhebungsklausel ins Spiel: Wenn das Oberste Gericht ein Gesetz für grundgesetzwidrig erklärt, kann die Knesset diese Entscheidung durch die Aufhebungsklausel jetzt aufheben. Kurz: Die Knesset hat das letzte Wort. Das ist Teil des Plans, wonach die israelische Justiz ihre Unabhängigkeit verliert.

Wie erklärt sich, was Sie eben ausgeführt haben, historisch?

Es ist ein Überbleibsel des britischen Systems. Bis 1992 hatte das Oberste Gericht keine Befugnisse, Gesetze zu prüfen. Es konnte sie nur im Licht der in der israelischen Unabhängigkeitserklärung verankerten Menschenrechte auslegen. Als 1992 erste Basic Laws verabschiedet wurden, insbesondere das zur Menschenwürde, erhielten die Gerichte Befugnisse, Primärrechte zu prüfen. In den letzten 30 Jahren gab es nur 22 Fälle, in denen die Gerichte von der Knesset verabschiedete Gesetze mit der Begründung aufgehoben haben, dass sie im Widerspruch zu den in den Basic Laws verankerten Grundrechten stehen.

Ist die Justizreform eine Erfindung der momentanen Netanjahu-Regierung?

Die Konservativen und die Rechten stehen dem Obersten Gericht seit Jahrzehnten kritisch gegenüber. Die Macht der Gerichte ist ihnen ein Dorn im Auge. Ihre Urteile wurden immer wieder von rechts angefochten. Wir hatten in Israel zum Beispiel drei aufeinanderfolgende Fälle von Asylbewerbern, die aufgrund einer Gesetzesänderung – dem sogenannten Infiltrationsgesetz – auf unbestimmte Zeit inhaftiert wurden. Der Oberste Gerichtshof hat das als grundgesetzwidrig aufgehoben. Die Aufhebungsklausel würde solche Schritte effektiv unmöglich machen.

Viele Israelis sprechen von einem Ende der israelischen Demokratie. Ist das überspitzt?

Keineswegs. Die Aufhebungsklausel ist nur ein Teil des Plans. Der umfasst auch, die Verfahren zur Ernennung von Richtern zu politisieren, um dadurch schnell konservative Richter ernennen zu können. Formal kann die Knesset, sollte der Plan durchgehen, jedem Gesetz den Status als Basic Law zuschreiben, ohne inhaltliche Begrenzungen. Die Regierung will neue Gesetze so präventiv gegen die Prüfung durch die Gerichte immunisieren. Das wird auch die Möglichkeit, Petitionen zu Menschenrechtsverletzungen einzureichen, stark beschneiden. 

Könnte eine moderatere Nachfolgeregierung diesen Prozess denn rückgängig machen?

Theoretisch, ja. Aber die jetzige Regierung kann jetzt sofort beginnen, Richter zu ernennen. Diesen Oktober werden zwei Richter in den Ruhestand gehen. Anders als in den USA haben wir ein festes Rentenalter für Richter. In Israel spricht man jetzt sogar über eine Herabsetzung jenes Rentenalters. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um die Macht des Obersten Gerichts zu schwächen. Im Moment herrscht dort noch ein empfindliches Gleichgewicht zwischen Konservativen und Liberalen.

Unabhängig von der Schwächung der Macht der Gerichte: Welches Interesse verfolgt die Koalition mit der Justizreform eigentlich?

Da ist einmal Netanjahus Eigeninteresse. Er hofft darauf, durch die rechtliche Revolution einem Korruptionsverfahren zu entgehen, das noch gegen ihn läuft. Dann haben Sie die Ultraorthodoxen, die erreichen wollen, dass Jeschiwa-Studenten den in Israel obligatorischen Armeedienst nicht leisten müssen. Und dann gibt es die Vertreter des Religiösen Zionismus. Ihr Problem mit dem Obersten Gericht ist, dass sie die Westbank annektieren wollen und das Gericht bislang noch nicht erlaubt, die illegale Außenposten in der Westbank restlos zu erweitern. Wenn man sich die Koalitionsvorhaben ansieht, folgt das Ganze einem detaillierten Plan. Es ist eine Frage von Wochen.

Zuletzt wurde Smotrich als De-facto-Gouverneur des Westjordanlandes ernannt. Er würde die militärische Zivilverwaltung ablösen. Inwieweit ist die Justizreform mit der Besatzung verflochten?

Man muss das als zwei parallele Revolutionen verstehen, die Hand in Hand gehen: die juristische Revolution in Israel und die über die Kontrolle des Westjordanlandes. Gemäß einem Abkommen zwischen Verteidigungsminister Yoav Galant und Smotrich wird letzterem die volle Verantwortung für alle zivilen Aspekte im Westjordanland übertragen, für Palästinenser sowie für israelische Siedler. Effektiv bedeutet das eine Ausweitung der Siedlungen und die Legalisierung bislang illegaler Außenposten. Gleichzeitig wird es Palästinensern sehr viel schwerer gemacht werden, Baugenehmigungen zu erhalten. Man wird versuchen, sie aus dem C-Gebiet im Westjordanland komplett zu vertreiben.

Vor knapp zwei Wochen richteten radikalisierte Siedler im palästinensischen Dorf Huwara Verwüstung an, Experten sprachen von einem Pogrom. Inwieweit hängt, was da passiert ist, das mit den Plänen zusammen, die Sie beschreiben?

Was wir in Huwara gesehen haben, ist Teil des Plans, Chaos zu stiften und die Siedler frei drehen zu lassen. Die Armee war nie besonders gut darin, Siedlergewalt zu kontrollieren, aber so einen vorsätzlicher Lynch-Mord, wie Huwara einer war, das haben wir in der Form noch nie gesehen. Das Ganze wurde von Vertretern dieser Koalition gefeiert. Smotrich kommentierte, Huwara hätte vom Staat Israel selbst ausgelöscht werden müssen, nicht von Einzelpersonen. Er hat sich später dafür entschuldigt. Ihm sei nicht klar gewesen, dass diese Äußerung als militärischer Befehl interpretiert werden könnte. Glaubwürdig ist das nicht.

Huwara war in Ihren Augen also kein Zufall?

Keineswegs. Die Anhänger des religiösen Zionismus brauchen eine Revolution, um ihre Macht zu zementieren. Die zivile Abteilung, die Smotrich ins Verteidigungsministerium verlegen will, soll innerhalb von zwei Jahren aufgelöst werden, sodass die Ministerien dann direkt mit den Siedlern zu tun haben. Die Idee ist, das Leben der Siedler komplett zu normalisieren. Sie sollen das Gefühl haben, in Israel zu leben, direkt von der Regierung bedient zu werden. In den Koalitionszielen wird das ausdrücklich so erklärt. Das Land, einschließlich des Westjordanlandes, sei ausschließlich israelischen Juden zugehörig.

Ein entscheidender Kritikpunkt an Amnestys Apartheid-Bericht letztes Jahr war, dass er ganz Israel Apartheid attestierte, nicht nur im Westjordanland, wo Menschenrechtler seit Jahren von Apartheid sprechen. Drohen diese Art Unterscheidungen angesichts dessen, was sie beschreiben, überflüssig zu werden?

Keine Frage: die jetzige Regierung verfolgt das Ziel, das Koordinatensystem neu zu ordnen. Was Apartheid rechtlich konstituiert, ist der Faktor der Dauer. Dieser Faktor wird in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich als Absicht festgelegt. Bereits unter Trump wurde versucht, das Westjordanland formell zu annektieren. Unter Biden wird diese Regierung das formell schwerer tun können, daher versucht sie jetzt alles in ihrer Macht stehende, es informell zu tun.

Eine weitere Gruppe israelischer Völkerrechtler veröffentlichten am 5. März ein Statement, das warnt, die erwähnte Übertragung von Befugnissen an Smotrich komme Apartheid gleich. Was sagen Sie dazu?

Ich sehe dies ähnlich. Vor fast einem Jahrzehnt veröffentlichte auch ACRI einen umfassenden Bericht, in dem das duale Rechtssystem im Westjordanland eingehend beschrieben wird. Sie müssen sich vor Augen halten: Auf ein und demselben Gebiet werden seit Jahrzehnten zwei Rechtssysteme angewandt: ein ziviles Rechtssystem für israelische Bürger, ein Militärrechtssystem für staatenlose Palästinenser. Das Ergebnis ist institutionalisierte Diskriminierung. Die Vereinbarung, die Smotrich zum De-facto-Gouverneur des Westjordanlands zu machen, wird das erheblich vertiefen. Es wird israelische Gesetze stärker als heute auf Israelis im Westjordanland anwenden. Es bedeutet die Ausweitung israelischer Souveränität über die Grüne Linie hinaus, sprich Annexion. Ein Prozess, der darauf abzielt, Kontrolle und Vorherrschaft über Palästinenser im Westjordanland zu festigen. Unterm Strich wird dies den Apartheidcharakter des Regimes vertiefen.

Hoffen Sie und andere in Israel auf internationalen Druck?

Leider wird die Besatzung von den meisten Israelis noch immer nicht als zentrales Problem betrachtet. Deshalb glauben wir, dass der internationalen Gemeinschaft hier eine besondere Verantwortung zukommt.

Netanjahu wird nächste Woche in Berlin zu Besuch sein. Was erhoffen Sie sich von Deutschland?

Man muss in Deutschland verstehen, dass Israel sich zielgerade auf das Orbán’sche Modell einer „illiberalen Demokratie“ zubewegt. In gewisser Weise hoffe ich, dass die Deutschen aufwachen. Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment, der Israels Charakter fundamental verändern könnte. In Deutschland spricht man ja gern von geteilten Werten. Diese Werte werden sich jetzt erheblich wandeln. Das ist eine echte Gefahr. Die Siedler fühlen sich unbesiegbar. Säkulare haben Angst. Die Biden-Regierung hat deutliche Erklärungen abgegeben. Netanjahu ist nach der Wahl auch nicht wie sonst üblich ins Weiße Haus eingeladen worden. Ich hoffe, dass Vertreter in Deutschland ähnlich deutlich werden.

Beeinflusst die neue Koalition die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen innerhalb Israels?

Der Druck auf die Zivilgesellschaft wächst schon jetzt. Der letzte Entwurf, von dem wir alle hoffen, dass er nicht durchkommt, sieht eine Besteuerung von Auslandsspenden in Höhe von 65 Prozent vor. Das ist ein ziemlich radikaler Vorschlag, selbst wenn das nicht im vollen Ausmaß durchkommen sollte.

Wird die Rolle der israelischen Zivilgesellschaft durch diese Entwicklungen gewissermaßen auch aufgewertet?

Viele Menschen suchen nach Informationen, was eigentlich genau passiert. Wir versuchen daher, so viele Informationen wie möglich zur Verfügung zu stellen. Es ist ermutigend, dass Menschen in Israel ihre Stimme erheben. Fast alle sind besorgt. Menschen aus der LGBTQ-Bewegung, Frauen, pensionierte Richter des Obersten Gerichts, Leute, die Netanjahu selbst ernannt hat. Aber die größte Front richtet sich gegen die juristische Revolution, weniger gegen die Annexion. Schon die palästinensische Flagge wird von vielen Demonstranten als ein Symbol der Aufwiegelung angesehen.

Glauben Sie, dass Sie Ihre Arbeit in Israel fortsetzen können?

Ich hoffe, dass wir nicht den Weg einschlagen müssen, den unsere Kollegen von „Agora“ in Moskau gehen mussten. Sie haben ihren Sitz aus Russland letztlich wegverlegen müssen. Es ist fraglich, wie wir die juristische Arbeit fortsetzen werden, insbesondere die Rechtsstreits. Das hängt davon ab, welche Teile des Rechtspakets am Ende verabschiedet werden. Nichts davon kommt wirklich überraschend. Wir haben die Entwicklung in den letzten Jahren kommen sehen. Dennoch ist es schwer, sich vorzustellen, wohin es effektiv führen könnte.

Wie groß stehen die Chancen, dass die Justizreform noch verhindert wird?

Das lässt sich schwer vorhersehen. Im Gegensatz zu früheren Regierungen gibt es jetzt momentan kaum moderierende Kräfte. Netanjahu kämpft für seine Freiheit. Große Teile Israels wachen auf. Aber wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns.