Ist ein Alter-weißer-Mann-Roman erfolgreich, wenn angeblich eine junge Frau ihn geschrieben hat?

„Schrödingers Grrrl“ von Marlen Hobrack erzählt von einer jungen Frau, die so tun soll, als sei sie die Autorin eines Textes, den ein 55-Jähriger geschrieben hat. Geht das gut?

Marlen Hobrack
Marlen HobrackAmac Garbe for Verbrecher Verlag

Seit den 1990er Jahren lesen auf Berliner Lesebühnen vor allem ostdeutsche Autor*innen kurze, alltagsnahe Texte. Darin geht es um Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt, die fließende Grenze zwischen Motivationsproblemen und Depressionen, Macken und Missgeschicke oder die absurden Versuche, doch irgendwie etwas Geld und Anerkennung in einer kapitalistischen Gesellschaft zu bekommen, die nicht gerade auf einen gewartet hat. An diese Geschichten erinnert das Szenario in Marlen Hobracks Debütroman „Schrödingers Grrrl“: Die Protagonistin Mara Wolf ist Anfang 20, hat die Schule nach der 9. Klasse abgebrochen und lebt von Hartz IV in Dresden-Neustadt. Sie verbringt viel Zeit in den sozialen Netzwerken und liebäugelt damit, eine Mode-Influencerin auf Instagram zu werden. Allzu ambitioniert verfolgt sie diesen Plan allerdings nicht. Zu sehr hat sie verinnerlicht, dass sie nicht zählt, zu wenig hat sie gelernt, eigene Ziele entschlossen zu verfolgen.

Unsichere Maus mit Potenzial

Dann begegnet sie in einer Bar dem mittelalten Literaturagenten Hanno, der ihr in seiner übergriffigen Art eine zwiespältige Botschaft vermittelt: Du bist doch auch nur irgend so eine unsichere Maus. Ich sehe Potenzial in dir. Das ist genau die Art von Botschaft, die Maras geringes Selbstwertgefühl zielsicher adressiert. Obwohl sie Hanno schmierig findet und sich schon früh fragt, warum er sie immer wieder kränken muss, lässt sie sich schließlich tatsächlich auf seinen Plan ein: Mara soll sich als Autorin des Romans eines 55-jährigen Schriftstellers ausgeben. In dem Buch geht es um eine Frau wie Mara: jung, hübsch und erfolglos. Autor, Agent und Lektor glauben, dass niemand einen solchen Text von einem älteren Mann lesen will, wohl aber von einer Frau im passenden Alter, die den Inhalt authentisch repräsentieren kann.

Männer, Frauen – Hauptsache jung

In Siri Hustvedts „Die gleißende Welt“ von 2014 suchte sich die ältere Künstlerin Harriet Burden drei jüngere, männliche Künstler als angebliche Erzeuger ihrer Werke, um dem männerdominierten New Yorker Kunstbetrieb ein Schnippchen zu schlagen. Nun präsentiert sich der deutsche Literaturbetrieb in Hobracks Roman ebenfalls als männerdominiert. Die Pointe besteht aber darin, dass junge Frauen als Aushängeschilder nun Erfolg versprechen. Was bei Hustvedt nicht ausgesprochen wird, wird bei Hobrack deutlich: das Geschlecht ist nur der eine und obendrein wandelbare Faktor der Vermarktungsmaschinerie, das Alter ist ein anderer. Und die angebliche „Authentizität“ ein weiterer, gerade in Zeiten, da „Autofiktion“ im deutschen Feuilleton ein Garant für hochwertige und gut verkäufliche Literatur zu sein scheint. „Schrödingers Grrrl“ bietet eine weitere, starke Pointe: Ist das Buch, dass wir gerade lesen, vielleicht DAS Buch? Ist es vielleicht gar nicht von Marlen Hobrack, sondern einem älteren Mann geschrieben worden? Und was hat es damit auf sich, dass manche Passagen in der Ich-Form geschrieben sind und andere personal erzählt werden?

Klassenkampf und Feminismus

Marlen Hobrack wurde 1986 in Bautzen geboren, studierte in Dresden Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften und lebt heute mit Mann und zwei Kindern als Journalistin und Autorin in Leipzig. Sie schreibt unter anderem für ZEIT, taz, EMMA, Monopol und hat in Der Freitag eine eigene Kolumne namens „Mutti Politics“. Letztes Jahr erschien bei Hanser Berlin ihr Sachbuch „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“. Darin widmet sie sich anhand des Lebens ihrer eigenen Mutter dem Thema „ostdeutsche Arbeiterinnen“ und bringt so die Themen „Klassenkampf“, „Feminismus“ und „Ostdeutschland“ auf so persönliche wie reflektierte und belesene Weise zusammen.

Auch in Schrödingers Grrrl sind Hobracks Themenschwerpunkte, die von Feminismus und Klassismus über „den Osten“ bis zu Heavy Metal reichen deutlich vertreten und werden um tragikomische Betrachtungen über Social-Media-Abhängigkeit und zeitgenössische Maschen des Literaturbetriebs erweitert.

Innigkeit jenseits von Insta-Oberflächen

Vor allem aber ist Hobrack mit Mara Wolf eine großartige Protagonistin geglückt: auf coole Weise uncool, ambitionsschwach und unkorrumpiert, sich selbst verleugnend und doch grundehrlich, leicht vom Weg abzubringen, aber letztlich immer wieder auf der Suche, nach dem was wirklich zählt: ein echtes Miteinander jenseits von Insta-Inszenierungen mit eingebauter Ghosting-Funktion. Und wer sehnt sich nicht nach innigen Beziehungen, in denen man sich selbst und gegenseitig anerkennt, als die Person, die man ist? Dass Mara dabei an verschiedene Männer gerät, die gar nicht in der Lage sind, sie als eigenständigen Menschen zu sehen, der nicht für die Befriedigung ihres Egos zuständig ist, macht die scheinbar heitere Lektüre von „Schrödingers Grrrl“ oft auch schmerzhaft und wirft die Frage auf, wie emanzipiert Männer wie Frauen 2023 eigentlich sind. Und wer schon immer einmal ein Heinz-Strunk-Szenario aus weiblicher Sicht lesen wollte, dem sei vor allem die Szene empfohlen, in der Mara mit ihrem Quasi-Lover Paul in Liverpool ein brasilianisches Restaurant besucht. Aber eigentlich auch gleich das ganze Buch. Ob die sprachlichen Unwuchten des Textes ein bug oder ein feature sind, können die Leser*innen dann ja selbst entscheiden.

Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl. Verbrecher-Verlag Berlin 2023, 280 Seiten, 24 Euro

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