Jens Spahn bei „Anne Will“: „Der Bundestag im Urlaub? Das passt nicht in die Zeit“
Bei „Anne Will“ wurde über die Inflation und die Armut in der deutschen Mittelschicht diskutiert. Warum gibt es keinen Krisenplan der Bundesregierung?

Die Politik schaut zu, wie die Preise in die Höhe schießen. Doch eine richtige Antwort darauf, wie man politisch nun reagieren könnte, hat sie nicht. Das ist zumindest der Eindruck, den man bekommt, wenn man aktuell Politikern zuhört. Wie etwa in der Runde bei „Anne Will“ am Sonntagabend in der ARD. Die Sendung war vor allem eine Gelegenheit, das Ausmaß der Krise zu beschreiben und staunend die Preisspirale, die Deutschland schon jetzt mit allen Konsequenzen erlebt, brav zur Kenntnis zu nehmen. In einem eingespielten Clip brachte ein Redner die drängendste Frage, die für den Herbst und den Winter 2022 besonders aktuell werden könnte, folgendermaßen auf den Punkt: „Was werden wir tun müssen? Weniger essen oder mehr frieren?“
Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. 40 Prozent der Deutschen haben kein Erspartes. 8 Millionen Menschen beziehen in Deutschland Sozialleistungen. Die Mittelschicht muss durchschnittlich mit etwa 3000 Euro netto durchkommen, Familien also, die knapp kalkulieren, um über die Runden zu kommen. Was tut die Bundesregierung, um die Inflation und die gestiegenen Preise und den drohenden GAU auf dem Energiemarkt abzufedern? Die Maßnahmen der Vergangenheit, so Anne Will bilanzierend, hätten jedenfalls nicht die erforderliche Milderung verschafft. War der Tankrabatt eine „Mistidee“? War das 9-Euro-Ticket, das im September ausläuft, bloße Symbolpolitik?
„Tankrabatt ist die Ursünde aller Maßnahmen“
Ricarda Lang von den Grünen wollte die bisherigen Maßnahmen nicht so deutlich aburteilen, wie es Anne Will nahegelegt hatte. Sie versprach, dass sich die Politiker der Koalition über mögliche Maßnahmen, die momentan auf dem Tisch liegen würden, still und heimlich abstimmen würden. Denn das öffentliche Vorpreschen mit Ideen hätte dazu geführt, dass am Ende bei vielen Maßnahmen ein fauler Kompromiss herausgekommen sei. Ricarda Lang sagte deutlich: Die getroffenen Maßnahmen wie die Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro als Zuschuss zum Gehalt für das Jahr 2022 und der Sofortzuschlag für Kinder würden nicht reichen. „Wir werden weitere Entlastungen auf den Weg bringen.“
Der Ökonom Marcel Fratzscher nahm einen Vorschlag der Diakonie auf, etwa soziale Leistungen dauerhaft pro Person um 100 Euro zu erhöhen und in der Mittelschicht für Entspannung zu sorgen. Den Tankrabatt nannte er die Ursünde aller Maßnahmen. Die Gesprächspartner waren sich dahingehend einig, dass mögliche Entlastungen vor allem jene Menschen betreffen müssten, die wirklich unter den Teuerungen leiden würden. Pauschalbeträge, von denen auch die Vermögenden profitieren wie beim Tankrabatt, seien kontraproduktiv.
Der Masterplan kommt zu spät
Jens Spahn stimmte dem zu und kritisierte die Bundesregierung scharf. Sie hätte keinen Plan, sagte er. Im Laufe des Gesprächs kam immer wieder die Kritik zum Vorschein, dass der Bundeskanzler Olaf Scholz die Inflation und die Preisteuerung nicht zur höchsten Priorität seiner Politik erklärt habe – im Unterschied zu US-Präsident Joe Biden. Momentan würde die Bundesregierung die Probleme sondieren, die Lage bewerten, mögliche Maßnahmen diskutieren, aber nicht handeln. Erst im September 2022 möchte Bundeskanzler Olaf Scholz mit allen Entscheidern einen Masterplan für Herbst und Winter 2022 beschließen. Zu spät?
Jens Spahn wurde da ziemlich deutlich. „Der Bundestag ist im Urlaub. Das passt nicht in die Zeit.“ Er forderte konkrete Maßnahmen für Familien. Sein Vorschlag: langfristig die Mehrwertsteuer senken und kurzfristig die Strompreise fixieren. Spahn plädierte für einen Basistarif für einen durchschnittlichen Haushalt, der garantiert, dass Familien mit einem bestimmten Einkommen oder Verbrauch ähnlich so viel Geld für Energie bezahlen wie vergangenes Jahr. Familien, die mehr verbrauchen, müssten dann auch besonders teure Preise zahlen. So könnte man sicherstellen, dass Besserverdiener solidarisch zur Kasse gebeten werden.
Lohnerhöhungen als Krisendämpfer schloss der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger jedenfalls aus. Die Unternehmen seien so am Anschlag. So sehr, dass sie eher aufs Überleben setzen würden und große Lohnanpassungen sich nicht leisten könnten. Interessanterweise war es auch Dulger, der Verständnis zeigte für Bundeskanzler Olaf Scholz und seine abwartende Taktik. Er sprach von einem Kick-off-Meeting, bei dem ein „gemeinsames Verständnis“ für die Problemlage eruiert werden müsse. Anne Will zeigte sich weniger geduldig. Sie sagte klar: „Alles ist unfassbar teuer geworden.“ Und das schon jetzt. Ob da Politiker im Urlaub das richtige Zeichen sind? Die Krise, sie ist jedenfalls da.
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