Johann Gottlieb Fichte: Im Steinregen ist gut philosophieren
In der Neujahrsnacht 1795 warfen Studenten dem Philosophieprofessor Johann Gottlieb Fichte die Scheiben ein. Fichte war erstaunt, aber nicht beunruhigt. Nach weiteren „Fensterkanonaden“ ersuchte er Schutz bei der Universität. Ihm wurde übermittelt, man werde alles versuchen, bitte ihn aber, „vor der Hand alles zu vermeiden, was die Erbitterung unterhalten oder vermehren könnte“. Das konnte er nicht. Er rebellierte auch weiterhin gegen die Ordensverbindungen unter der Studentenschaft; er verdächtigte sie, auf das Studium, schlechte Einflüsse zu haben. Die Studenten wiederum glaubten, Fichte wolle einen Illuminaten-Orden aufbauen und die Konkurrenz wegbeißen. Das hat Fichte heftig bestritten, über seine Zugehörigkeit zum Freimaurerorden allerdings tunlichst geschwiegen.
Jena, das damals 4500 Einwohnern und gut 800 Studenten hatte, war für eine kurze, enorm prägende Zeit der Mittelpunkt des deutschen Geisteslebens. Schiller, Hölderlin, Schelling wohnten da, und nach Weimar zu Goethe war es auch nicht weit. Lauter Berühmtheiten, der berühmteste Philosoph allerdings wohnte weit weg, in Königsberg, doch Kant war immer da, in den Köpfen, den Debatten. Und Fichte glaubte, dass er zu den Wenigen gehörte, die wirklich wüssten, „was Kant haben will“.
Der Deutsche Idealismus, von dem man später sprach, ist wesentlich Fichte zu verdanken, als eine Radikalisierung der Kantischen Philosophie. Kant hat nie die Möglichkeit überprüfbarer Erkenntnis bestritten, aber die Relativität des menschlichen Wissens gezeigt. Fichte wollte den Gedanken der völligen Selbstgenügsamkeit der Vernunft zu Ende denken. Alles Wissen müsse in einem „absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz“ verankert werden. Philosophie, sagt Fichte in seinem Hauptwerk „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, ist „die Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt“: „Alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grundsatz zusammen und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen.“ Diesen Grundsatz nennt Fichte das „Ich“, ein erstes Prinzip, das sich sein Gegenüber, das „Nicht-Ich“, selbst erschafft. Kompliziert. Fichte selbst musste sich seine Idee immer wieder selbst erklären. Aber wer sie nicht begreife, verstehe „keine gründliche Philosophie, und er bedarf keiner“.
Ein absolutes Ich
Ich, Nicht-Ich − damit fingen die Missverständnisse an. Das „Ich“ Fichtes meint nicht das individuelle Ego, kein empirisches Etwas, sondern ein absolutes Ich, „das sich setzt“, mit dem Fichte glaubte, gefunden zu haben, was es bei Kant lediglich als formales Prinzip gebe. Und er versprach sich davon die „vollständige Lösung des Rätsels der Welt und des Bewusstseins mit mathematischer Evidenz“.
Es ist ihm nicht geglückt, und Kant selbst sah in Fichtes Wissenschaftslehre ein unhaltbares Gedankengebäude, nichts als „bloße Logik“. Dennoch hat Fichte der Philosophie viel zu denken und zu erregen gegeben. Für Jean Paul war er schlicht „der Teufel“, für Schopenhauer ein Scharlatan. Schelling sah in ihm dagegen den „neuen Helden im Lande der Wahrheit“, und Hegel glaubte, bei ihm „höchste Höhe aller Philosophie“ zu finden. Die Jenenser Turbulenzen werden jedenfalls auch mit Fichtes anspruchsvollem, vielleicht vermessenem, in jedem Fall kühnem Neu-Ansatz einer Philosophie nach Kant begründet gewesen sein. 1799 wurde er gezwungen, seine Jenenser Professur aufzugeben: Man warf ihm Atheismus vor.
Manfred Kühne, dessen maßgebliche Fichte-Biographie seit zwei Jahren vorliegt (C. H. Beck), sagt, als Systemerschaffer habe er heute an Relevanz eingebüßt; man solle Fichte besser als Problemdenker verstehen, als Analytiker von Detailfragen der Ethik und Religion, des Naturrechts und der „Bestimmung des Menschen“, wie seine populärste Schrift von 1800 heißt. „Mit Strenge und Sorgfalt“ übt er sich hier an einem „kunstlosen Nachdenken“ und schildert sein Ideal einer allmählichen Aufhebung aller Egoismen. Fichte war auch hier konsequent. Er forderte einen Vernunftstaat, der mit der Gleichheit der Menschen Ernst macht.
Und dann sind da noch die unrühmlich berühmten „Reden an die deutsche Nation“. Fichte zog von Jena nach Berlin, wo er 1810 der erste gewählter Rektor der neugegründeten Universität wurde. Mit den „Reden“, gehalten im Wintersemester 1807/08 unter französischer Besetzung, wollte er nicht das militärische Deutschland stark reden. Er stritt für die Überwindung der Stände, für gleiche Bildung aller – und die Erziehung zu einer „moralischen Weltordnung“ nach dem Vorbild eines deutschen „Vernunftstaates“. Fichte redete von „Veredelung“ und scheute sich nicht vor judenfeindlichen Tönen.
Auch wenn diese Reden heute reaktionärer klingen, weil sie von Nationalisten und den Nationalsozialisten schamlos instrumentalisiert wurden – die Rolle der Philosophie als Volkserzieherin bleibt begründungspflichtig, auch innerhalb Fichtes Denken. Spätestens mit diesen Reden wurde er ein „deutscher Philosoph“.
Heute vor 200 Jahren ist er, sehr plötzlich, an Typhus gestorben.