Judenverfolgung in Berlin: Literarische Erinnerungen an die Verfinsterung in Deutschland
Eine Flaschenpost aus der Vergangenheit ist das Fundstück der Saison. Entdeckt wurde „Rien où poser sa tête“ auf einem Flohmarkt in Nizza. Françoise Frenkel veröffentlichte ihre Erinnerungen 1945 im Genfer Verlag Jeheber, im vergangenen Jahr wurden sie in Frankreich neu aufgelegt. Nun erscheint dieses einzigartige Zeugnis, das bei seinem ersten Erscheinen in den Wirren der Zeitenwende kaum wahrgenommen worden war, auch auf Deutsch.
Françoise Frenkel, am 14. Juli 1889 als Frymeta Idesa Frenkel in Polen geboren, war von 1921 bis 1939 Leiterin der ersten französischen Buchhandlung in Berlin. Vor den Nazis floh die Jüdin kurz vor Kriegsausbruch mit einem Sonderzug nach Paris. Und floh von dort immer weiter Richtung Süden. Davon wollte sie Zeugnis ablegen, um der Helden des Alltags zu gedenken, die sie versteckt und gerettet haben. Das ist bewegend und lehrreich, und es wird erstaunlich gelassen berichtet.
Zwischenstopp in Berlin
Schon als Kind entdeckt Frenkel ihre „Berufung zur Buchhändlerin“. Dass sie dieser ausgerechnet in Berlin nachgeht, ist ein Zufall. Als sie auf der Zugfahrt von Polen, ihrer Heimat, und Frankreich, ihrem Herzensland, einen Zwischenstopp einlegte, bemerkte sie, dass es in der deutschen Hauptstadt keine französische Buchhandlung gab. Das konnte so nicht bleiben. Frankreichs Verlage und seine Diplomaten unterstützten das Projekt intensiv. Bald schon konnte Frenkel aus dem 1921 bezogenen Zwischengeschoss einer Privatwohnung in die Kleiststraße in die Passauer Straße wechseln – ungefähr dorthin, wo sich heute das KaDeWe befindet. Die Buchhandlung wurde zu einer ersten Adresse für alle Frankophilen.
Ab 1935, da war ihr Mann schon seit zwei Jahren in Frankreich, nahmen die Schwierigkeiten zu. Anfangs ging es um Devisen-Probleme, dann immer öfter um Zensur. Und schließlich um Frenkels jüdische Herkunft. Die Autorin schildert die Dreistigkeiten einer Blockwartin, den Kontakt mit der Gestapo und die Übergriffe auf jüdische Läden. „Es war grotesk und zugleich erbärmlich,“ schreibt sie. „Überall begegnete man Menschen, die verlegen, fast beschämt wirkten; doch niemand protestierte frei heraus.“
Brand der Synagoge
In der Pogromnacht 1938 erlebt sie den Brand der Synagoge: „Die Feuerwehrmänner bespritzten die Nachbarhäuser, um die Ausbreitung des Brandes zu verhindern.“ Und sie vernimmt „eine autoritäre Stimme im Dunkel“, die bestimmt, dass die Synagoge verloren sei. Im Hof stolpert Frenkel über einen siebenarmigen Leuchter, „zerbrochen und verbogen, dort hingeworfen.“ Bald darauf erhält Frenkel von der französischen Botschaft den Rat, die Stadt „einstweilen“ zu verlassen. Im Sonderzug nach Paris wird ihr in Köln untersagt, die erlaubte Höchstsumme von zehn Mark gegen Francs einzutauschen. „Nicht Arierin! ... keine Devisen ... der nächste!“
Frenkel schildert auf knappem Raum die allmähliche Verfinsterung in Deutschland. Einer dieser Erinnerungssplitter gilt dem „Besuch einer deutschen Mutter, die über ihr Kind weinte, das gerade vor der ganzen Klasse belobigt und als Vorbild hingestellt worden war, weil es sie wegen ihrer nazifeindlichen Ansichten denunziert hatte“.
Frenkel wütet nicht, sondern wirkt vor allem enttäuscht von Land und Leuten. Und vergisst doch nicht jene „Mutigen“, die ihre Stimme erhoben haben und dafür ins Konzentrationslager kamen. „Die Erinnerung an sie kann gewiss nicht ausgelöscht werden.“
Die Erwartung, in Frankreich auf sicherem Gebiet zu sein, trügt. Bald nehmen – aus Angst vor einer „fünften Kolonne“ – die Kontrollen der Ausländer im Lande zu.Die deutsche Armee rückt näher. Also flieht Frenkel weiter. Bei allem, was sie aufgibt, ist erstaunlich, wie sie selbst in den schlimmsten Momenten nicht umhin kommt, die Schönheit der Landschaft zu schildern. Selbst in einem Transporter, der sie in die Haftanstalt nach Annecy fährt, erfreut sie sich an „die in ihrem Winterkleid überwältigend schönen Berge“.
Erinnerungen an die Mutigen
Gleichwohl verschweigt sie nicht, wie ihr vieles verlorengeht – die Lebenslust, die Habseligkeiten und ihr Beruf sowieso. Als sie in einem Antiquariat in Nizza ihre kostenlose Mitarbeit anbietet, wird ihr das von den Behörden versagt, weil es für Ausländer keine Arbeitserlaubnis gebe. Frenkel kommt zunächst unter in Pensionen, in denen sie andere Flüchtlinge trifft, muss schließlich untertauchen, weil die Judenverfolgung auch in Südfrankreich wütet. Dabei findet sie heroische Helfer, aber auch erbärmliche Geldabschneider. Eine Odyssee, die schließlich in der Schweiz endet. Zweimal missglückte ihr die Flucht über die geschlossene Grenze. Beim dritten Mal klappte es endlich. Als der Krieg zuende war, scheint Frenkel sofort in ihr geliebtes Frankreich zurückgekehrt zu sein. Über ihr Weiterleben nach der Verfolgung weiß man wenig. Am 18. Januar 1975 ist sie in Nizza gestorben.
Patrick Modiano, der in seinem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Werk immer wieder die Spuren der Vergangenheit im Heute verfolgt, macht im Vorwort auf eine Leerstelle in dem Buch aufmerksam. Simon Rachenstein, Frenkels Ehemann , kommt in diesen Erinnerungen nicht vor. Dabei hat er mit ihr zusammen das „Maison du Livre français à Berlin“ von 1923 bis 1933 geführt. Er floh viele Jahre vor seiner Frau vor den Nazis. Aber entkam ihnen nicht. 1942 wurde er nach Auschwitz transportiert. Über ihn: kein Wort.
So umweht das Buch und die Autorin ein Rätsel. Doch „muss man wirklich mehr wissen“, fragt Modiano. „Dieses Zeugnis über das Leben einer verfolgten Frau im Süden Frankreichs und in der Haute-Savoie während der Besatzungszeit ist umso beeindruckender, als es das Zeugnis einer Anonyma zu sein scheint, so, wie das auch „Eine Frau in Berlin“ gewesen ist, ebenfalls in der Schweiz veröffentlicht, in den 50er Jahren.“
Eine intime Kostbarkeit ist dieser Text. In einer Vorbemerkung schrieb Frenkel: „Es ist die Pflicht der Überlebenden, Zeugnis abzulegen, damit die Toten nicht vergessen, noch Hilfsbereitschaft und Aufopferung Unbekannter missachtet werden.“