Kabul: Musik im Kriegsgebiet
Die Fahrt durch das morgendliche Kabul ist nah an der Schmerzgrenze. Wir sind auf dem Weg nach Kharabat, dem alten Musikerviertel, im Stadtzentrum. Alle paar hundert Meter Checkpoints der Polizei, am Straßenrand Pick-ups der Militärs, im Kreisverkehr gestikulieren Polizisten mit Atemmasken. Der Staub legt sich wie eine undurchdringliche Schicht auf Menschen, Autos und Pferdegespanne.
An den Straßenkreuzungen häufen sich Müllberge, in denen Kinder und Frauen in Burka nach Essen suchen. Im 18. Jahrhundert wurde Kabul, auf 1 800 Metern Höhe gelegen, Sitz der Könige; heute ist es eine Königin aus Staub und Müll, wo die Menschen trotz allem besser versorgt sind als im Rest des Landes.
Unser Motorvan hält an einer Tankstelle, die an jeder europäischen Autobahn stehen könnte. Gleich darauf begegnen wir einem Mann mit Pferdefuhrwerk und einer riesigen Jauchetonne, der in sein Handy schreit. In Kabul, dem Moloch mit sechs Millionen Einwohnern, gibt es keine Kanalisation, ebenso wenig ein Stadtplanungskonzept. Immer mehr Bauland wird für Einfamilienhäuser erschlossen, ohne dass die Neubauten an Kanalisation oder Wasserversorgung angeschlossen sind. An den Bushaltestellen geht es nach Herat, Kundus, Kandahar.
An den zentralen Plätzen warten Tagelöhner mit leerem Blick auf Arbeit. Auf den Straßen um den Bazar hängen frischgeschlachtete Tiere, in engen Käfigen warten magere weiße Hühner auf ihren Tod; überall stehen Handkarren mit Karotten, Lauch und Äpfeln in 5-Kilo-Plastikbeuteln. Die meisten Läden sind bis 23 Uhr geöffnet, die Ladenbesitzer schlafen in ihren Läden oder gleich nebenan.
Wenn Abdul-Wahab Madadi, geboren in Herat, an seine Lehrzeit im alten Kharabat denkt, stimmt er manchmal vor lauter Heimweh sein berühmtestes Lied, „Watan,“ Heimat, seine Dari-Übertragung des Liedes von Mikis Theodorakis, an. „In Kharabat herrschte eine Atmosphäre, wie sie heute unvorstellbar ist: ein ganzes Stadtviertel, das ein einziges Konservatorium war“, sagt Madadi, einer der berühmtesten Sänger Afghanistans. „Die Lehmhäuser waren grau wie überall in der Altstadt, es war kein reiches Viertel. Doch in Kharabat lebten die berühmten „Ostads,“ von denen jeder zu Hause seine Schüler unterrichtete.“
Einflüsse aus ganz Asien
Unsere Vorstellung von Afghanistan ist heute von Krieg und Gewalt bestimmt. Dabei vergessen wir immer wieder, dass das Land allein durch seine geografische Lage dreitausend Jahre lang ein Schmelztiegel der Kulturen in Zentralasien war. „Vor allem die klassische indische und die afghanische volkstümliche Musik haben sich gegenseitig beeinflusst,“ erklärt Achmad-Samad Habibi, einer der berühmtesten Rubabspieler, der wie Madadi heute in Deutschland lebt. „Auch die Instrumente tauchen in ähnlicher Form in allen Ländern Zentralasiens auf.“ Typisch sind die Langhalslauten Rubab, Tanbur, Dotar, Danbura, die gezupft werden, die Streichinstrumente Ghichak und Sarinda, die Bambusquerflöte Tula, die Holztrommeln Zerbaghali, Dhol, Dulak, Doira und die kleinen Becken Tal; über das indische Goa kam das Harmonium nach Afghanistan.
Da viele Volkslieder zunächst von umherziehenden Hirten gespielt und verbreitet wurden, waren die Instrumente entsprechend aus natürlichen Materialien gebaut. Die Saiten wurden aus Ziegendarm und Pflanzenfasern, die Instrumente selbst aus dem Holz des Maulbeerbaums hergestellt, der in jedem afghanischen Innenhof wächst. In Kharabat lebten neben den Musikern und Sängern auch Instrumentenbauer, der Vertrieb der Instrumente geschah über die alte Seidenstraße, die von Herat nach Kabul und weiter nach Indien, China und Tadschikistan führte.
„Ruh bedeutet arabisch Seele oder Geist, bab bedeutet Tor,“ erklärt Ostad Habibi, für den seine Rubab das fantastischste aller Instrumente ist. Dem berühmten Virtuosen Mohamad Omar gelang es zum Beispiel, auf seiner Rubab die verschiedenen Töne anderer Instrumente, ähnlich wie Jimi Hendrix, auf seiner Gitarre, zu erzeugen.
„In der afghanischen Musik gibt es eine unglaubliche Einfachheit in der Kompliziertheit,“ sagt Christian Burchard, Komponist und einer der wichtigsten Vertreter der Weltmusik, der mit seiner Gruppe Embryo das Land vor dem Bürgerkrieg bereist hatte. „Der afghanische Rhythmus swingt einfach, mehr als der indische. Das liegt auch daran, dass es in Afghanistan keine Trennung zwischen klassischer und volkstümlicher Musik wie in Indien gibt.“
Es gibt Lieder über die Jahreszeiten und die Schönheit der Landschaft, die oft regionale Bezüge enthalten. Zwar ist das Repertoire der klassischen, bekannten Volkslieder begrenzt. Doch die Virtuosität zeigt sich in der jeweiligen Interpretation des „Ostads,“ dem auch die besondere Verehrung des Publikums gilt.
„Wenn zum Beispiel der Rubab-Meister Mohamad Omar aus einer freien Improvisation das Volkslied „Anar, anar“ angespielt hat, hat das Publikum reagiert, als wenn ein Fußballtor geschossen würde,“ erinnert sich Christian Burchard. „Anar, anar“ ist eines der bekanntesten Lieder und besingt ein Mädchen, das schön wie ein Granatapfel ist. Auch Hartmut Geerken, der in den siebziger Jahren das Goethe-Institut in Kabul leitete, erinnert sich an die reiche Musikszene vor dem Bürgerkrieg, als er dem Kabuler Publikum Musikfilme über Cage und Ligeti gezeigt hat.
„Der berühmte Ostad Sarahang hat einmal bei mir zu Hause gesungen, und ich habe schnell die Fenster zugemacht, weil er politisch wurde und das Land Afghanistan mit einem Königspalast verglich; und in der Schlussstrophe hieß es, leider hat dieser Palast kein Dach, und es liegt alles voller Schnee.“ Mit der Gründung von Radio Kabul 1956, später Radio Afghanistan, wurden viele Sänger und Musiker national bekannt. Die Musik von Balkh bis Herat und Kandahar wurde nun bis in die entlegensten Gegenden ausgestrahlt, wo es zwar oft keinen Strom, aber Transistorradios gab. Mit der Verbreitung der Musik erhielten auch die ersten Frauen, Mermon Parwin oder Farida Marwash, den Titel einer „Ostad.“
Von Radio Afghanistan wurde ebenso klassische europäische wie indische Musik gespielt. In den siebziger Jahren wurde der Sänger Achmad Zahir berühmt, dessen Lieder nun auch durch das 1978 begründete Fernsehen verbreitet wurden. Achmad Zahir hatte der eher melancholischen afghanischen Musik einen optimistischeren Klang gegeben. Nach dem Einmarsch der Russen kam Zahir, Sohn des damaligen Vizekanzlers, ums Leben. Wenn man heute durch Kabul fährt, ist sein bekanntesten Lied, „Du bist weit weg von mir,“ aus dem Autoradio zu hören, der Hit im nachmittäglichen Wunschkonzert.
Die Hälfte der 28 Millionen Einwohner Afghanistans ist unter 30 Jahre alt. Zwar hat die junge Generation die Meister von Kharabat nicht mehr erlebt. Doch die großen „Ostads“ sind unvergessen. Auf jedem Bazar der Innenstadt gibt es ihre Kassetten oder CDs zu kaufen. Zumindest für gelegentliche Konzerte sind manche afghanische Musiker vorübergehend wieder in ihre Heimat zurückgekehrt – falls kein Todesurteil der Taliban auf ihnen lastet.
„Es gibt durchaus Versuche, an unsere große Musikkultur wiederanzuknüpfen,“ sagt der junge Rubabspieler und Sänger Tamin Bina, der der Organisation „Arahang“ angehört. „Aber vor allem müssten wir neue Lehrer finden, denn die alten Meister sind tot oder im Ausland. Inzwischen gibt es sogar eine Musikschule in Kabul, aber die spielt ausschließlich westliche Musik.“
Fast jeden Abend zwischen 17 und 19 Uhr, wenn der asan aus den umliegenden Moscheen zum Abendgebet ruft, gibt es in Kabul keinen Strom. Sobald der Strom wieder da ist, laufen im Fernsehen die neuesten Musikvideoclips aus dem benachbarten Tadschikistan und anschließend die afghanische Version von „Wer rettet die Million?“ In fast jeder Familie gibt es ebenso viele Mobiltelefone wie Familienmitglieder. Viele junge Frauen zwischen 15 und 25, die während des Bürgerkriegs aufgewachsen sind und nie lesen und schreiben gelernt haben, hören mit Begeisterung Musikclips. Auch „Deutschland sucht den Superstar“ gab es in afghanischer Version. Selbst in den Provinzstädten außerhalb Kabuls befindet sich ein Handyladen neben dem anderen – neue Medien eröffnen überall den Blick auf eine andere Welt.
Häuser bis heute nicht wieder aufgebaut
Trotz der unablässigen Bautätigkeit wurden die Häuser von Kharabat, Zeichen der kollektiven Erinnerung, bis heute nicht wieder aufgebaut: Geblieben sind Lehmhäuser, in deren Fenster das Glas fehlt. Heute sind die Künstler Afghanistans in alle Welt verstreut. Im Land selbst findet künstlerisches Schaffen durch die politische Instabilität nur am Rande statt. Dabei wäre es bereits ein wichtiger Teil des Friedensprozesses, an die große Kultur Afghanistans wiederanzuknüpfen. Schließlich geht es in dem von Krieg zerstörten Land darum, ein Stück afghanischer Geschichte zu rekonstruieren.
Christian Burchard tritt bei seinen Konzerten häufig mit afghanischen Künstlern auf. „Die afghanische Musik ist eine ungeheuer feinstoffliche, hochkomplizierte uralte Musikkultur, und es ist wichtig für unsere afghanischen Kollegen, dass sie merken, sie sind nicht allein sind und dass man ihnen zeigt, dass ihre Kultur einfach großartig ist.“