Die kleine Schwester des KaDeWe, so nannte man in Berlins Goldenen Zwanzigern das 1904 erbaute, inzwischen charmant morbide, 1990 letztmalig ein wenig sanierte Kaufhaus Jandorf an der Brunnenstraße in Mitte. Es war vor allem in den Jahren der Weimarer Republik ein edel patinierter Kauftempel, diente bis Kriegsende als Verkaufsort der Hermann Tietz OHG, wurde zu DDR-Zeit Sitz des Modeinstituts und nach dem Mauerfall eine der begehrtesten Locations – für Kunst-Projekte, edle kleine Messen und exklusive Partys.
Gerade erst tafelten Gourmets bei einer Food-Messe, davor markierten Laufstege einer Berliner Junge-Mode-Messe die wildromantisch anmutenden Säle mit den hohen Säulen hinter dem strengschönen Maßwerk der Spät-Jugendstilfassade aus Muschelkalk und Tuffstein. Und nun ziehen wieder andere Künstler ein. Aber diesmal letztmalig. Die im Ruhrgebiet lebenden Erben des vormaligen Hausbesitzers lassen das Gebäude aufwendig generalsanieren. Danach zieht ein fester Mieter ein.
Die „Jungen Wilden“
Das Ende all der Kunst-Events im herrlich abgefahrenen Ambiente markiert ab kommenden Samstag für eine ganze Woche eine Großschau mit jeder Menge Aktionen, Videofilmen und Konzerten unter dem Titel „ Von Weiß zu Weiß“. Letzte Gelegenheit für die Berliner Galerie Deschler, zwei ihrer Künstler nach Lust und Laune schalten und walten zu lassen. Die beiden haben bereits angefangen, das Skelettfassaden-Gebäude mit ihrer Kunst zu markieren.
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Der gebürtige Schweizer Luciano Castelli, 66, seit Jahren in Paris lebender Maler, Musiker (etwa in der avantgardistischen West-Berliner Punkband „Geile Tiere“) und Filmemacher, war ab Ende der 70er-Jahre Teil der legendären, rebellischen „Jungen Wilden“, der „Boys vom Moritzplatz“ im West-Berlin der Mauerzeit – mit Rainer Fetting und Salomé.
Zwei Energiebündel prallen aufeinander
Und ebenso baut der einst „wilde“, punkige Menschen-Fotograf Sven Marquardt, 55, geboren in Ost-Berlin und junger Chronist damaliger Subkulturen, seine Foto-Installationen auf. Zur Legende wurde er schon als höllenfürstartiger, volltätowierter Türsteher vom Club Berghain. Nunmehr braucht kein Kurator, kein Galerist mehr dieses effektvoll-verruchte Klischee, um damit die Massen vor Marquardts wahrlich unvergleichliche Fotos zu bringen.
Der Mann ist heute ein international gefeierter und gefragter Fotokünstler – und natürlich zugleich eine (getreue) Instanz im Berghain. Zudem unterrichtet Marquardt inzwischen an der Weißenseer Ostkreuzschule für Fotografie und hat eine Menge Studenten. Zwei künstlerische Energiebündel und obsessive Naturelle prallen unter den alt-pittoresken Stuckdecken des geschichtsträchtigen Jandorfs aufeinander.
Castelli
Gestisch-expressiv, herausfordernd, mit exzessiver, tabuloser Fantasie agiert der Maler Castelli. Sein malerisch wie kalligraphisch automatisiertes Pinselhieb-Figuren-Theater – darunter auch unverkennbar immer wieder die Züge seiner Frau Alexandra, einer Malerin – scheint von den Jandorf-Wänden herabsteigen zu wollen.
Die Figuren greifen förmlich nach einem, diese mummenschanzigen Konturen-Gestalten mit riesigen Augen und Mündern, mit Masken, Vogelnasen, Peitschen, Fesseln. Dieser Maler experimentiert mit einer selbst gebauten Camera Obscura und entwickelt so seine „Revolving Paintings“ – Bildtableaus in schwarz und blau, mit Farbchiffren und Markierungen in grellem Rot.
Gefeiert wie ein Popstar
Diese teils ins Dreidimensionale tendierenden Tafeln – von denen Castelli parallel zur bevorstehenden Jandorf-Aktion etliche in der Mitte-Galerie Deschler zeigt – können gedreht werden, haben keine definierte Oberkante, damit kein Oben oder Unten, kein Links oder Rechts.
Körper, Mimik, Gesten verändern, Motive „überlagern“ und durchdringen sich gegenseitig, liegen manchmal flach oder stehen auf dem Kopf, geben abstrakte Strukturen vor und erweisen sich erst gegenständlich gebunden, wenn das Motiv „gerade“ steht. Vor zwei Jahren zeigte Castelli diese Bilder, die sich um 360 Grad langsam drehen lassen, in Peking. Die Chinesen feierten ihn wie einen Popstar.
Ein letztes Aufbäumen
Stiller, ja, tiefgründig bis zur Melancholie, bis zur Schmerzerfahrung, fotografiert Marquardt, der seine Modelle mit geheimnisvoller, auch abgründiger Aura auflädt und dessen große, noch in schwarz-weiß fotografierende und filmende Vorbilder – gerade im raffinierten, so abgründigen wie überhöhenden Umgang mit der Lichtführung – völlig unepigonal durchschimmern: die Menschenbilder von August Sander, Lotte Jacobi, Erich Salomon, Robert Mapplethorpe, des italienischen Filmemachers Pasolini, dessen finalen Meisterwerks „Die 120 Tage von Sodom“.
Alles im einstigen Kaufhaus, diesem 10.000 Quadratmeter-Areal auf fünf Etagen, wird am Schluss der Kunst-Aktion wieder bildlos weiß. Sozusagen ein ironischer Akt der Katharsis, einer „Reinigung“, wie man sie aus der antiken Tragödie kennt. Und zwar durch Kunst, Fantasie, greller wie dunkler Obsession und leidenschaftlicher Poesie – der Lust wie der Trauer. Dies alles, bevor – das haben die Besitzer der Immobilie unumkehrbar beschlossen – dort nach der Sanierung zahlendes Business einzieht: die Zentrale eines Automobilkonzerns.