An diesem Film schrieben die Götter mit: „Music“ von Angela Schanelec
Durch die so künstlichen wie wirklichen Bilder von Angela Schanelec haucht einen das ewige Leiden des Menschen an. In „Music“ wacht Ödipus wieder auf und singt.

Das, was wir gleich im ersten Bild des Films „Music“ von Angela Schanelec sehen, ist nicht allein ihr Werk, auch nicht das ihres Kameramanns Ivan Markovic, und man kann nur hoffen, dass keine Tonleute ihre Hände im Spiel hatten. Geschrieben ist dieses erste, aber nicht das einzige Bild dieses Filmes von der Natur und vom Zufall – oder eben von den Göttern. Wir sehen über die mit Disteln und Dornengestrüpp bewachsene, felsige Flanke eines Berges hinab in ein Tal, eine Wolke schiebt sich vor den Kader, ein Donner löst sich mit lautem Knall, das Unheil nimmt seinen Lauf.
Schanelecs Bilder sind starr, künstlich, oft total, theater- und zeichenhaft bis an die Grenze der Begrifflichkeit, die Kamera ist entweder schon da oder sie bleibt zurück, während das bedeutungsvolle Geschehen vorbeizieht. Zugleich führen die Bilder, auch dank der realen Zeit, die sie in Anspruch nehmen, ein Eigenleben und transportieren die Materialität der Wirklichkeit: Wind fährt durchs Kino, Staubwolken schweben nieder, Meerwasser spritzt – und irgendwann scheint sich die Haut der Bilder zu öffnen, und man findet sich im mythischen Raum wieder, um sich darin zu verlieren. Es tut fast körperlich weh, wenn dann doch geschnitten wird.
So langsam der Film auch erzählt ist, so schnell werden das Gefüge der Figuren, das Geflecht der Schuld, der Liebe und des Leidens unübersichtlich und geraten außer Kontrolle. „Music“ ist vom Ödipus-Mythos inspiriert und spielt in der Gegenwart. Gedreht wurde hauptsächlich auf der Peleponnes, aber auch in Berlin, lustigerweise am Potsdamer Platz, sodass man im Berlinale-Palast wie durch ein Fenster blickt.
Nach dem Donneranfang weint ein Mann, er trägt eine tote Frau durchs nächtliche Gebirge und verirrt sich. Ein Kind wird in einem verlassenen Ziegenstall gefunden und zu Merope und Elias gebracht, wo es bis auf ein Ekzem an den Füßen gesund aufwächst. Das ist Ion. Jahre später kommt es zu der Begegnung mit dem leiblichen Vater, dessen fremder Liebe Ion (Aliocha Schneider) sich erwehrt, indem er ihn zurückstößt. Der fällt unglücklich und stirbt. Im Gefängnis lernt Ion Iro (Agathe Bonitzer) kennen, die ihm die Füße heilt, die Musik bringt und eigentlich viel zu jung ist, um seine Mutter zu sein. Ion macht Iro ein Kind, Iro erfährt, wer ihren Mann getötet hat und springt von der Klippe. Sie reißt eine Eidechse, die ihr unbemerkt auf den Fuß gekrabbelt ist, mit hinunter. Oh, Zeus! Wer hat dieses Tierchen in das Bild gelassen?
Angela Schanelec, die ihre Karriere als Schauspielerin begann, dann ein Filmstudium an der DFFB in Berlin abschloss und seither als freie Autorenfilmerin arbeitet, hat 2019 mit „Ich war zu Hause, aber ...“ schon einen silbernen Bären gewonnen. Sie war die letzte Partnerin des Theaterregisseurs Jürgen Gosch, der 2009 starb und mit dem sie zwei Kinder bekam. Schanelec selbst nennt Goschs „Ödipus“-Inszenierung aus dem Jahr 1984 mit Ulrich Wildgruber in der Titelrolle ihre Inspirationsquelle. Es war, nach dem Weggang Goschs in den Westen, dessen erster großer Erfolg. Schanelec war damals Anfang zwanzig, so alt wie ihre Hauptdarsteller. Vier Jahrzehnte sind vergangen, und das Echo aus der Antike, aus dem Jenseits klingt weiter nach, schreibt seine Leidenswellenkreise in der Kunst fort.
Man muss sich damit abfinden, dass die Schauspieler von der eigenen Erhabenheit durchglüht sind und unnahbar bleiben. Ihre Rettung ist deshalb die Musik. Ion erfährt nicht, was ihm passiert ist, er singt und darf deshalb weiterleben, zugleich gebannt und befreit vom Mythos, der, wenn man einmal mit Schanelecs Augen durch die Welt guckt, überall hervorwächst.
Man braucht entsprechende Antennen, ein lyrisch narzisstisches Ich und Geduld: Wer würde sich schon die Zeit nehmen, um mit griechischen Gefängniswärterinnen eine Pause zu verbringen? Sie spielen mit wenig Engagement Tischtennis und dann lösen sie ein Kreuzworträtsel. Erst sind sie sich mit einer englischen Stadt nicht sicher: Briston oder Bristol? Und dann fragen sie nach einem anderen Wort für Καθρέφτης (Spiegel) mit sechs Buchstaben und hinten einem O. Gesucht wird Όνειρο – Traum. Keine Angst, es ist nur ein Wort.
Wettbewerb: Music von Angela Schanelec, Deutschland, Frankreich, Serbien 2023
Termine: 22.2., 10 Uhr Cubix 9; 22.2., 21.30 Uhr Haus der Berliner Festspiele; 26.2., 9.30 Uhr Zoo-Palast