„Babyn Jar. Kontext“ beim Jüdischen Filmfestival: Das Grauen im Original

Für „Babyn Jar. Kontext“ sammelte Sergei Loznitsa Aufnahmen aus dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten. Es ist ein Film mit erschreckender Aktualität.

Prozess-Szene aus dem Film „Babyn Jar. Kontext“ von Sergei Loznitsa
Prozess-Szene aus dem Film „Babyn Jar. Kontext“ von Sergei LoznitsaJFBB

Die Schlucht Babyn Jar gilt als Sinnbild des Holocausts mit Kugeln, ein im Schatten von Auschwitz vergleichsweise unbekanntes Kapitel der Shoah. Diesen Teil des deutschen Vernichtungskrieges aufzuarbeiten, ist Ziel des Films „Babyn Jar. Context“. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa hat bisher selten oder nie gezeigte Aufnahmen, die tief in Archiven verschwunden waren, zusammengestellt. Der Film zeigt Material von Kameraleuten der Wehrmacht und der Roten Armee, von Soldaten und Zivilisten. Die größtenteils chronologische Aneinanderreihung des Materials gibt den Verlauf des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion ab Beginn der Operation Barbarossa wieder.

Ein Problem des Dokumentarfilms ist jedoch, dass Zuschauer ein erhebliches Wissen über die Geschichte der Ukraine, den deutschen Vernichtungskrieg und die sowjetische Geschichte besitzen müssen, um das Material einordnen zu können. Zu den Aufnahmen gibt es nur selten Erklärungen. Loznitsa lässt die Bilder für sich sprechen.

Brutale Anarchie in den besetzten Gebieten

So begrüßen zu Beginn Einwohner der Stadt Lwiw die einmarschierenden deutschen Truppen. Im September 1939 hatte parallel zum Angriff Nazideutschlands auf Polen auch die UdSSR Polen und die baltischen Länder angegriffen und, gemäß des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes, besetzt. Während dieser Besatzung ermordeten die Sowjets Zehntausende und deportierten ähnlich viele aus den besetzten Gebieten. Die lokale Bevölkerung aus Polen und Ukrainern hoffte auf Besserung. Die Ukrainer wollten zudem einen eigenen Staat gründen.

Die Deutschen missbrauchten die Trauer und Wut, und machten die angeblich jüdischen Bolschewisten für die Massaker verantwortlich. Dass unter den Opfern auch Juden waren, verschwiegen sie. Der antisemitische Volkszorn brodelte. Juden wurden gezwungen, die Leichen aus den Gefängnissen zu bergen. In den folgenden Pogromen wurden Juden auf offener Straße gedemütigt, geschlagen, ermordet und missbraucht. Allein in Lemberg, woher Teile der Aufnahmen stammen, wurden so unter den Augen und mit Hilfe der deutschen Besatzer viertausend Menschen ermordet – allein in den ersten vier Wochen der deutschen Besatzung. Es ist diese brutale Anarchie, die Timothy Snyder in seinem Werk „Bloodlands“ beschreibt, die zu der unbändigen Massenvernichtung führt. Zu dieser zählt neben der Vernichtung der Juden auch die Zerstörung des Landes. Deutsche Soldaten sind zu sehen, wie sie Dörfer durchkämmen und anzünden. Kein Haus bleibt verschont. Was noch nicht brennt, wird mit Flammenwerfern angezündet.

Zur gleichen Zeit bereiten sich die sowjetischen Truppen auf eine Verteidigung vor, werden jedoch überrannt. In die Straßen Kiews rückt die 6. Armee ein, die später in Stalingrad eingekesselt und besiegt werden wird. Hitlerplakate ersetzen Stalinplakate. Die Menschen scheinen neugierig. Der Antisemitismus wird noch allgegenwärtiger.

Größte Massenerschießung der Geschichte

Als im September 1941 dann mehrere Sprengsätze im Zentrum Kiews explodieren, die die abrückenden sowjetischen Truppen hinterlassen hatten, bricht sich auch hier der Antisemitismus offen Bahn. Die Deutschen fordern alle Juden der Stadt auf, sich an zentralen Sammelpunkten einzufinden. Es wird zur größten bekannten Massenerschießung der Geschichte.

Das Grauen lässt sich erahnen, wenn man in dem Film die Zeugenaussagen von Überlebenden und einem deutschen Kriegsverbrecher während der sowjetischen Prozesse 1946 hört. Die jüdischen Opfer wurden ihrer Würde beraubt und wie menschlicher Abfall in eine Grube geworfen. Um sicher zu gehen, dass alle tot waren, gingen die Täter über die Leichenberge und schossen auf jeden der röchelte oder atmete. Eine Überlebende erzählt, wie sie vortäuschte angeschossen zu sein und sich in den Graben fallen ließ. Nachts schlich sie sich davon und überlebte das Massaker. Es ist schier unvorstellbar, welches Grauen diese Frau durchgemacht hat. Am Ende töteten die Deutschen mehr als 33.000 Menschen in knapp drei Tagen.

Sergei Loznitsa schafft es mit dem Film, auch zu zeigen, dass die einheimische Bevölkerung mit den Gräueln einverstanden war und sich oft auch beteiligte. Wie Passanten auf jüdische Opfer einschlagen, sie beschimpfen, verfolgen. Und auch die Aussagen des deutschen SS-Mannes Hans Isenmann stehen symbolisch für die Täterschaft. In kühlen, sachlichen Beschreibungen gibt er wieder, wie er selbst 120 Menschen tötete. Ganz so, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre. Auch deshalb will sich am Ende des Films kein Mitleid bei Ausschnitten einstellen, die zeigen wie er und neun weitere verurteilte Beteiligte von den Sowjets öffentlich gehängt werden.

Aktueller denn je

Erschreckend an dem Film ist auch, dass heute wieder ähnliche Bilder entstehen. Immer wieder sind im Film Kolonnen von Panzern zu sehen. Artilleriegeschütze und Stalinorgeln feuern unablässig. Die Bilder der Leichen toter Soldaten gleichen denen aus dem russischen Krieg in der Ukraine. Ein Überflug über die Ruinen des zerstörten Kiew, weckt Assoziationen mit den heute durch Russland zerstörten Städten der Ukraine: Mariupol, Charkiw, Borodjanka. Eine Ironie der Geschichte ist, dass die Enkel manch einstiger Befreier heute die Überlebenden von damals töten, wie den 96-jährigen Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko der bei russischem Beschuss in Charkiw im März getötet wurde. Russische Raketen töteten im selben Monat Menschen ganz in der Nähe der Gräber von Babyn Jar, als sie den Kiewer Funkturm in der Nähe von Babyn Jar trafen. Der Film ist heute so aktuell, wie lange nicht mehr. Nicht nur wegen der teilweise deckungsgleichen Schauplätze. Er lässt daran zweifeln, ob die Menschheit denn etwas aus der Shoah gelernt hat.

Babyn Jar. Kontext  wird auf dem Jüdischen Filmfestival gezeigt. Er läuft am 17. Juni um 15 und 17 Uhr und am 18. Juni um 18.30 Uhr. Infos über Spielorte und Karten:  www.jffb.info