Fremd zwischen dänischen Kühen: „Stille Liv“ von Malene Choi
Ein ruhiger und ehrlicher Panorama-Film spielt das in Berlin so aufgeregt diskutierte Thema Integration im dörflichen Dänemark durch.

Carl ist ein neunzehnjähriger Junge mit koreanischen Wurzeln, der nach seiner Internatszeit zurück auf den Hof seiner Adoptiveltern kommt, einen dänischen Agrarbetrieb mittlerer Größe, mit Rindern, Weide- und Ackerflächen. Die Landschaft ist auf unspektakuläre Weise schön, sanft gehügelt und durchkultiviert. Der Kuhstall ist nur halbwegs modern, man muss schon noch zur Schippe greifen, um Zusatzstoffe ins Futter zu mischen, und zum Schlauch, um den Kuhmist wegzuspritzen und die Melkmaschine zu reinigen.
Aber der Betrieb läuft, Vater Hans (gespielt von Bjarne Henriksen) kann sogar einen neuen Traktor anschaffen. Es ist eine der Stärken des Films „Stille Liv“ (The Quiet Migration) der dänisch-koreanischen Regisseurin Malene Choi, dass er sich auf den Rhythmus des Landlebens einlässt. Man kann zum Beispiel in Ruhe zugucken, wie so ein Traktor eine Weide mäht, das abgeschnittene Gras zusammenrollt, den Ballen auf eine Spindel setzt, in Drehung versetzt, mit Hilfe von sanft und bestimmt zugreifenden Haltern und Rollen in wasserabweisende Folie verpackt und schließlich aufs Feld spuckt. Der Traktor ist eine Investition in die Zukunft und mithin eine symbolische Verpflichtung für Carl. Die sich noch einmal zuspitzt, als seine Adoptiveltern körperlich und seelisch schlapp machen.
Trost im Kuhstall
Carls leibliche Eltern sind Südkoreaner, man sieht es ihm an, an den Augen, den Haaren, am zurückhaltenden Wesen – aber da wird es schon fraglich. Selbst der politisch korrekteste Sensibilitätsberater muss merken, dass Carl fremd aussieht und irgendwie nicht ins Bild passt, wenn er da in diesem dänischen Kuhstall sitzt, wohin er flieht, um bei einem neugeborenen Kalb Trost zu finden. Gespielt wird er von dem 2002 in Südkorea geborenen und in Dänemark aufgewachsenen Cornelius Won Riedel-Clausen. Auch die Regisseurin (Jahrgang 1973) teilt diese biografische Besonderheit, weiß um die Schwierigkeiten und die Selbstzweifel, die zum Beispiel entstehen, wenn man in der Pubertät von konventionellen Schönheitsidealen abweicht und immer wieder zu spüren bekommt, dass man anders ist und nicht dazugehört.
Dabei ist die Beziehung zwischen Carl und seinen Eltern Hans und Karen (Bodil Jørgensen) von stiller Nähe, gegenseitiger Zuneigung und Rücksicht geprägt. Wie sie ihre Mahlzeiten einnehmen, wie sie sich umeinander sorgen, wie sie miteinander schweigen, einander Zeit und Raum lassen – das ist alles überaus richtig und von großer emotionaler Intelligenz, aber es zeigt doch, dass die ohnehin tragischen Konflikte in Familienstrukturen durch die multikulturelle Adoption noch einmal potenziert werden. Das ist auf dem Land noch einmal viel spürbarer als in einer Großstadt.
Zum ersten Mal in Südkorea
Wie unbelastet ist dagegen das Leben, das Andrzej (Dawid Ściupidro) als polnischer Zeitarbeiter auf Hans’ und Karens Hof führt. Kaum hat er sich mit Carl angefreundet, zieht ihn das Leben auch schon wieder weiter. Die flüchtige Annäherung an Marie (Clara Thi Thanh Heilmann Jensen), die dieselben Wurzeln wie Carl hat, steht sofort unter Verdacht. Man muss überhaupt keine pseudoethnischen Gemeinsamkeiten konstruieren: Was sie zusammenführt und aneinander festhalten lässt, ist ihr geteiltes Schicksal.
Ein bisschen holperig und überdeutlich wirken die Ausflüge in den magischen Realismus, die aber das Mittel der Wahl sind, um per Doppelbelichtung eine Parallelwelt sichtbar zu machen. Da erscheint still und freundlich Carls leibliche Mutter, oder Carl streift in seiner Fantasie über einen südkoreanischen Markt, nascht und staunt und wird von allen angelächelt. Diese Bilder bekommen ein dokumentarisches Gewicht, weil Carls Darsteller für die Dreharbeiten selbst zum ersten Mal nach Südkorea reiste.
Eine Familienfeier oder der Besuch eines Chinarestaurants werden für Carl leicht zur Qual, das ist es wohl, was als struktureller Rassismus bezeichnet wird. Bei den einen bewirkt er in tieferen Seelenschichten Unheil, während andere ihn nicht einmal wahrnehmen. Der Film lässt einen spüren, was Integration neben ihren Chancen auch an Bürden, Rücksichten und Geduldsproben beinhaltet – auf allen Seiten. Dass diese Leutchen, ihre Traurigkeit und ihre Lebensmühe, einem ans Herz wachsen, darin steckt viel Hoffnung.
Panorama: „Stille Liv“ (Quiet Integration). Ein autobiografisch inspirierter Spielfilm von Malene Choi. Dänemark 2023, 102 Minuten
Berlinale-Termine: 18.2., 22 Uhr Cubix 7; 19.2., 22 Uhr Zoopalast; 21.2., 19 Uhr Cubix 2; 22.2., 22 Uhr Cubix 7; 25.2., 16 Uhr Cubix 5