Es gibt ein Leben nach der Fischfabrik: Der spanische Film „Matria“
Das Porträt einer tapferen Frau, die nicht mehr geliebt und als Mutter nicht mehr gebraucht wird. María Vázquez ist als Protagonistin ein Ereignis.

In einem galizischen Fischerdorf in Nordwestspanien lebt Ramona, eine zähe, impulsive 42-jährige Frau mit roten Locken. Sie vibriert im Kampf um ihr Auskommen, wobei ihr die eigenen Bedürfnisse, sieht man mal von den Zigaretten ab, kaum in den Sinn kommen. Ihr Mann Andrés (Santi Prego) nimmt die Lebensphase eher locker, trinkt gern mal einen und hat eine Geliebte. Die Tochter Estrella (Soraya Luaces) ist 18 und beißt gerade die letzten Fädchen der Nabelschnur durch.
Heimat ist weiblich
Für Estrella rackert Ramona sich ab, sie soll studieren und es besser haben – und nicht gleich mit dem ersten Jungen alle Bemühungen um Selbstentfaltung aufgeben. Es ist eine sehr typische Geschichte von unerfüllten, auf die nächste Generation projizierten Träumen, die der Spanier Álvaro Gago in seinem Langfilmdebüt „Matria“ erzählt. Getragen wird sie von der schier unbezähmbar scheinenden Hauptdarstellerin María Vázquez, die ihrer Figur eine herzaufreißende Authentizität gibt. Sie und der Regisseur sind in Vigo (Galizien) geboren. Sie erzählen von zu Hause. Patria (Vaterland, Heimat) wird zu „Matria“.
Ramona führt die weibliche Putzbrigade in einer Fischfabrik an. Der Ton ist rau, aber kameradschaftlich, die Arbeit hart und stinkig. Das Geld reicht nicht, Ramona arbeitet zusätzlich auf einem Muschelkutter. Es ist ein täglicher Marathon, und Ramona hat offenbar unendlich viel Kraft. Sie hibbelt rum, klotzt ran, packt zu, macht Sprüche, meckert und lacht, flirtet und stachelt. Sogar unter der Dusche arbeitet sie mit fast schon brutaler Effizienz: Sie rubbelt sich mit professioneller Putzhand den Fischgestank von der Haut, wäscht ihr Haar, als wäre es ein Scheuerlappen. Ihre Alterungserscheinungen nimmt sie zur Kenntnis, wie man ein Pferd auf seinen Wert prüft. Die Schatten in ihrer Lunge werden größer, die Brüste hängen tiefer, die Rötungen der Haut verheißen nichts Gutes. Wo, verdammt, ist die Bremse?
Als ihr Arbeitgeber den Lohn weiter drücken will, schmeißt sie hin, nur um unter noch größeren Druck zu kommen. Immerhin findet sie schnell einen Halbtagsjob als Haushaltshilfe bei einem älteren Herrn mit Hund, deren beider Griesgram binnen kurzem bröckelt. Immer öfter geschehen ihr Momente des Innehaltens: ein Blick über den Atlantik, ein Besäufnis mit der Freundin, eine angebrannte Tortilla, ein Flirt mit einem Muschelkuttermatrosen, eine Kuschelrunde mit dem Hund, ein suchender Blick in den Spiegel oder einfach eine Pause auf einer Bank im Sonnenlicht.
Der Film zeichnet eine triste, spröde, ärmliche Welt, das soziale Gefüge wird in aller Klarheit gezeigt und nicht verurteilt. Es dauert ein bisschen, bis man die Wärme spürt, die darin pulsiert: in Umarmungen, Blicken und auch in dem etwas zu lauten, aber gemeinsamen Lachen über eingeübte Witze. Eine Wärme von Sehnsucht und von Liebesbedürftigkeit, niedergehalten und überdeckt vom Kampf um das fehlende Geld und gegen die verrinnende Zeit in diesem Gefängnis namens Leben.
Panorama: „Matria“ von Álvaro Gago, Spanien 2023
Termine: 18.2., 18.30 Uhr Cineplex Titania; 19.2., 21.45 Uhr Zoopalast 3, 4, 5; 20.2. 21.30 Uhr Cubix 2, 24.2. 12.15 Uhr Haus der Berliner Festspiele; 25.2. 10 Uhr Zoo Palast 2