James Baldwin: Die Neuaufwertung eines intellektuellen Erbes

Auf dem Berlinale-Festival läuft die restaurierte Doku „I Heard It through the Grapevine“ von 1982. Sie widmet sich Baldwins Einfluss – und dem seiner Zeitgenossen.

Filmstill aus „I Heard It through the Grapevine“: Der amerikanische Schriftsteller James Baldwin
Filmstill aus „I Heard It through the Grapevine“: Der amerikanische Schriftsteller James BaldwinDick Fontaine, courtesy of the Dick Fontaine Collection, Harvard Film Archive

„Vielleicht ist Heimat kein Ort, sondern ein unwiderruflicher Zustand.“ James Baldwins Satz aus seinem Roman „Giovannis Zimmer“ hallt wie ein Echo durch „I Heard It through the Grapevine“. Dick Fontaines Dokumentarfilm begleitet den Schriftsteller und Denker, wie er versucht, sich nach Jahren im Ausland ein Bild vom damaligen Zustand der US-amerikanischen „race relations“ zu machen. Der Film von 1982 wurde jetzt, knapp 40 Jahre später, in der durch das Harvard Film Archive restaurierten Fassung auf der Berlinale der Öffentlichkeit präsentiert.

Ein Nebeneffekt dieser filmischen Neuaufwertung ist auch, dass man als Betrachterin in einen wahrlich mehrperspektivischen Zeitkosmos hineingezogen wird. Denn der Film erlaubt einen Blick aus der Gegenwart in eine Vergangenheit, in der Baldwin und seine Weggefährten selbst ständig über Vergangenheit nachdenken – eine Vergangenheit, deren Bewertung im Film aus heutiger Sicht überraschend gegenwärtig wirkt. Und dass, obwohl die Morde an Rodney King, Eric Garner und George Floyd, die das heutige Verständnis von strukturellem Rassismus in den USA prägen, sich bekanntlich erst viel später ereigneten. 

Knapp zwei Jahrzehnte nach den ersten Erfolgen der US-Bürgerrechtsbewegung reist Baldwin im Film, von der Kamera begleitet, an historische Schauplätze in den Südstaaten der USA. Er besucht Selma, wo Martin Luther King Jr. einst die Selma-nach-Montgomery-Märsche anführte, oder auch Birmingham, Atlanta und die Strände von Florida. In Washington D.C. spricht er vor dem Martin Luther King Memorial über die ambivalente Bedeutung von Denkmälern. Die Reise ist fraglos als eine Form von Erinnerung und auch Eingedenken zu verstehen.

Aber auch ein Versuch, ein Resümee zu ziehen und offene Fragen zu beantworten. Waren die Ziele der Bürgerrechtsbewegung ausreichend? War ihr Anspruch auf Gleichstellung vor dem Gesetz sowie auf das Ende der Segregation utopisch, revolutionär oder gar naiv? Trug die Bewegung durch die Überwindung des expliziten, sprich juristisch verankerten Rassismus womöglich indirekt und unwillentlich dazu bei, das implizit rassistische Selbstbild der weißen Mehrheitsgesellschaft der USA noch zu stärken? Derartige Fragen stellen sich Baldwin und seine Brüder und Schwestern im Geiste – darunter auch Baldwins leiblicher Bruder, der Musiker David Baldwin.

Filmstill aus „I Heard It through the Grapevine“. Im Vordergrund: die US-Aktivistin Oretha Castle Haley.
Filmstill aus „I Heard It through the Grapevine“. Im Vordergrund: die US-Aktivistin Oretha Castle Haley.Dick Fontaine, courtesy of the Dick Fontaine Collection, Harvard Film Archive

James Baldwin tritt oft in den Hintergrund

Zu Wort kommen dabei etwa der Lyriker Amiri Baraka, die Aktivistin Oretha Castle Haley oder der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe. Sie erzählen von Jahrzehnten staatlicher Willkür und struktureller Nachlässigkeit, von einem brutalen Angriff auf eine Schwarze Kirche und von der Art und Weise, wie sich rassistische Gewalt in der Institution der US-Polizei weiter fortschreibt. Die Gespräche erlauben dabei oft eine Innenschau in eine Community, die von jahrhundertealtem Trauma geprägt ist sowie von internen Meinungsverschiedenheiten über die Ziele und Grenzen ihres Kampfes, aber von unbeugsamer Hoffnung in die neue Generation.

Ähnlich wie Raoul Pecks „I Am Not Your Negro“ (2017) mischt Dick Fontaines Film historisches Archivmaterial zwischen diese Begegnungen. Ganz anders als in Pecks Film steht Baldwin dabei jedoch meist gar nicht so sehr im Zentrum des Geschehens. Oft sitzt er am Rand, lauscht etwa einem Vortrag einer Erzieherin, die sich der unmöglich wirkenden Aufgabe annimmt, einer Gruppe Schwarzer Schulkinder zu erklären, was die Sklaverei konkret bedeutete und weshalb ihr Erbe in den USA bis heute fortlebt. Wir sehen, wie Baldwin dem Gospel lauscht und befreundeten Personen beim Diskutieren zuhört. Es ist eine Darstellung des Autors nicht als unfehlbares, intellektuelles Genie, sondern als Mensch, der tief verankert ist in einer Community, wo Weisheit sehr verschiedene Formen annehmen kann. Das ist es letztlich, was diesen Film charmant und in seiner Vielstimmigkeit auch durchaus anspruchsvoll macht.

Filmstill aus „I Heard It through the Grapevine“. Im Bild: die Edmund Pettus Bridge, zentraler Schauplatz der Selma-nach-Montgomery-Märsche.
Filmstill aus „I Heard It through the Grapevine“. Im Bild: die Edmund Pettus Bridge, zentraler Schauplatz der Selma-nach-Montgomery-Märsche.Dick Fontaine, courtesy of the Dick Fontaine Collection, Harvard Film Archive

Der Titel des Films bezieht sich natürlich auf den Motown-Hit von Norman Whitfield und Barrett Strong. Der Ausdruck „I Heard It through the Grapevine“ entspringt der Bürgerkriegs-Zeit in den USA: die sogenannte menschliche Weinrebe („grapevine“) galt als eine Form des Körper gewordenen Telegramms für Geheimbotschaften unter versklavten Menschen. Auch diese kassiberhafte Doppeldeutigkeit Schwarzer Musik hat eine lange Geschichte. Sie findet sich bereits in Gospel-Spirituals wie „Steal Away To Jesus“ oder „Let My People Go“. Viele Weiße erkannten darin lange Zeit lediglich harmlosen Singsang. Dick Fontaines Film hingegen gelingt es, derartige Doppeldeutigkeiten auf sehr berührende Weise zu entschlüsseln. 

I Heard It through the Grapevine. USA 1982, 91 Minuten, Forum Special.