Berlinale Shorts: Aus dem Elend sprühen Funken
In diesem Jahr zeigt die Berlinale weniger Kurzfilme als sonst und schärft so das kuratorische Profil. Man sollte die Filme nicht verpassen.

1990, irgendwo in der chinesischen Provinz, die Blicke gehen nach Peking. In der fernen Hauptstadt finden die ersten Asienspiele statt. „All Asiens stand together“ und andere Utopien prangen auf Spruchbändern. Sie flimmern als Wochenschau über die knittrige Leinwand des zur Fabrik gehörenden Kultursaals. Glücklich, wer eines der raren Tickets ergattern konnte. Die Pförtnerin thront als entrückte Göttin vor dem Eingang. Sie träumt vor sich hin, wie die Zuschauer in den Sitzreihen, wie die feiernden Menschen in Peking. Doch die Idylle erweist sich als brüchig. Denn das Kino taugt nur bedingt als Schutzraum. „Wo de peng you“ (All Tomorrow’s Parties) von Zhang Dalei aus China ist einer der schönsten Beiträge der diesjährigen Berlinale-Shorts-Sektion. Er beschreibt einen doppelten Eskapismus: den Rückzug in virtuelle Sphären und jenen ins Gestern. Heutige chinesische Filme vollziehen nicht zufällig derartige Fluchtbewegungen.
Vom Verlorengehen und Gefundenwerden
Dass die Gefahr des Verlorengehens in anderer Form globale Gegenwart ist, lässt sich mehrfach ablesen. In „A Kind of Testament“ entdeckt eine junge Frau im weltweiten Netz Videoclips, die offensichtlich aus ihren eigenen Selfies generiert wurden. Bei der Recherche nach ihrer medialen Doppelgängerin ist ihr der Tod dicht auf den Fersen. „As miçangas“ zeigt den Rückzug zweier Frauen ins brasilianische Hinterland und die Unmöglichkeit, dabei auch ihre Krisen hinter sich zu lassen. Für den wortkargen britischen Teenager in „La herida luminosa“ wird die ersehnte Reise nach Mallorca zur Sackgasse. Und Donatienne Berthereaus „Nuits blanches“ porträtiert eine junge Frau in Paris, die zwischen Drogen, Beziehungen und der ausweglosen politischen Situation kurz vor der Wiederwahl Macrons ganz und gar verlorenzugehen droht.
Die „Berlinale Shorts“ konzentrieren sich diesmal auf fünf Blöcke mit „nur“ 20 Filmen. Dadurch konnte das kuratorische Profil geschärft werden. Es erschöpft sich keineswegs in den oben beschriebenen Krisenszenarios. Die vitalsten Werke konstatieren das Elend nicht nur, sie schlagen daraus Funken. So in „Terra Mater“ aus Ruanda, mit dem der Verwüstung Afrikas durch unseren Schrott der Triumph einer zornigen Göttin entgegenstellt wird. Die estnisch-kroatische Beerdigungsgroteske „Eeva“ katapultiert die besten Traditionen des osteuropäischen Animationsfilms ins ästhetische Jetzt. „Jill, Uncredited“ entführt als Found-Footage-Montage ins Berufsleben einer anonymen Kleindarstellerin. Auch mein diesjähriger Favorit „Ours“ (Bär) arbeitet mit Fundmaterial. Regisseurin Morgane Frund erzählt von der Begegnung einer Kunststudentin mit einem auf Bären spezialisierten Amateurfilmer. Als sie die Aufnahmen sichtet, stellt sie fest, dass neben den Bären hauptsächlich Frauen aufgenommen wurden, oft mit versteckter Kamera. Konzentriert, dabei stets spielerisch, entspinnt sich ein Diskurs über Schaulust, Ohnmacht und ähnliche Objekt-Subjekt-Relationen.
Die Termine und Orte der Vorführungen sind im Berlinale-Programm zu finden.