Bilanz der Berlinale: Ein Festival unter Druck

Viel war toll an dieser Berlinale, der Wettbewerb gehörte leider nicht dazu. Das lag sicher an der Pandemie, aber auch an kuratorischen Entscheidungen. 

Die diesjährige Jury-Präsidentin Kristen Stewart auf dem Weg zur Preisverleihung
Die diesjährige Jury-Präsidentin Kristen Stewart auf dem Weg zur PreisverleihungFabian Sommer/dpa

„Sage bitte, dass ich mir sehr bewusst bin, dass sich die Welt nicht um die Bären dreht“, ließ die deutsche Filmemacherin Angela Schanelec ihren Produzenten Kirill Krasovski verlesen, als sie am Samstagabend den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewann. Ein Gedanke, der omnipräsent war auf dieser Berlinale, die kurz nach dem verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei begann, die mit dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine zusammenfiel und die mit Golshifteh Farahani eine iranische Schauspielerin und Aktivistin in die Jury berufen hatte.

Gleichzeitig sollte diese Berlinale auch ein Zeichen für das Kino setzen. Die Einspielergebnisse der deutschen Lichtspielhäuser haben längst noch nicht wieder ihr vorpandemisches Niveau erreicht. Die Erwartungen an das größte deutsche Festival, mit möglichst großer Strahlkraft wieder Lust auf kollektive Filmerlebnisse zu wecken, waren dementsprechend groß.

120 Minuten Standing Ovations

Ihrer politischen Verantwortung sind die Veranstalter auf sehr engagierte Art nachgekommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach bei der Eröffnungsgala, es gab öffentlichkeitswirksame Solidaritätsbekundungen, diverse Filme aus den Krisenregionen im Programm und vor allem viele und große Bühnen für Betroffene.

Und auch seinen zweiten Auftrag hat das Festival sicher zu einem gewissen Teil erfüllt. Eine gute Woche lang wurde wieder viel über Filme gesprochen und geschrieben, also öffentlich nachgedacht, und den potenziellen Zuschauern damit hoffentlich das Gefühl vermittelt, dass das alles sie etwas angeht. Interessante und schöne Menschen auf dem roten Teppich haben die Aufmerksamkeit verstärkt und es gab unvergessliche Momente, wie den Auftritt von Steven Spielberg, die das Denken an kollektive Kinomomente wieder mit Sehnsucht aufluden.

US-Regisseur Steven Spielberg küsst den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk.
US-Regisseur Steven Spielberg küsst den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk.Jens Kalaene/dpa

Insgesamt 120 Minuten Standing Ovations zählten die Veranstalter, fast alle Vorführungen waren ausverkauft, und zwar schnell. Wer morgens eine Minute nach zehn Uhr die Berlinale-Website aktualisierte, hatte oft schon Pech. Für viele ältere Menschen, die sich sonst stets in die langen Schlangen an den Ticketschaltern gestellt hatten, war der neuerdings reine Online-Verkauf eine Herausforderung, leider manchmal auch ein unüberwindbares Hindernis.

Und es gab auch tolle Filme unter den diesjährigen 287, einem angenehm gestrafften Programm im Vergleich zu den Kosslick-Jahren. Nur: Die meisten davon liefen nicht im Wettbewerb.

Die Pandemie weht durch das Programm

Man muss daraus nicht Überdramatisches für den Status des Festivals ableiten. Die Gründe, warum es die Berlinale mit seiner Filmauswahl seit jeher schwerer hat als Cannes und Venedig, wurden oft benannt. Die anderen Festivals finden im Sommer statt, bekommen mehr internationale Aufmerksamkeit und können Titel zeigen, die im Folgejahr ins Oscar-Rennen gehen sollen und deshalb bis Dezember im Kino anlaufen müssen.

In diesem Jahr kam noch ein anderer, essenzieller Aspekt hinzu. Auch wenn viele das Thema leid oder mental mit anderen Krisen der Welt beschäftigt sind, muss festgestellt werden: Die 73. Berlinale, wenn auch wieder mit vollbesetzten Kinosälen, war die Berlinale der Pandemie. Während die vergangenen beiden Ausgaben zwar durch Corona-Beschränkungen veranstaltungstechnisch eingeschränkt waren, profitierte ihr Programm von dem Filmstau, den die Schließungen der Kinos verursacht hatten.

Die meisten Filme, die jetzt im Programm sind, mussten dagegen unter erschwerten Bedingungen während der Pandemie entstehen. Man sieht es ihnen an. Fast alle Wettbewerbsbeiträge spielen in begrenzten oder leeren Räumen. Das portugiesische Drama „Mal Viver“ begleitet eine Gruppe von Frauen in einem kaum besuchten Hotel. In Emily Atefs „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ wechselt die Handlung zwischen zwei einsamen Bauernhöfen in der thüringischen Provinz hin und her. „Tótem“ aus Mexiko ist ein Kammerspiel rund um ein bedeutungsvolles Fest, und auch „Le Grand Chariot“, für den Philippe Garrel mit dem Silbernen Regie-Bären ausgezeichnet wurde, konzentriert sich auf eine feste Familienkonstellation, die eher selten mit ihrer Umwelt interagiert. Die Liste ließe sich fortführen. Und dann ist da natürlich noch der Gewinner des Goldenen Bären, der Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“, der den Alltag in einer schwimmenden Tagesklinik für Menschen mit psychischen Problemen zeigt. Anders als in den anderen Filmen wird die Pandemie hier in Form von Masken auch konkret sichtbar.

Zwei Patientinnen bei der Kunsttherapie: eine Szene aus dem Gewinnerfilm „Sur l’Adamant“
Zwei Patientinnen bei der Kunsttherapie: eine Szene aus dem Gewinnerfilm „Sur l’Adamant“Lonridge/TS Production

Die mutigen Filme liefen als „Encounters“

Manche Filmemacher konnten die Not zur Tugend machen. Der Australier Ivan Sen zum Beispiel, der seinen hartgesottenen Ermittler durch eine schwarz-weiße Einöde im australischen Outback schickt, wo die Einwohner in der Steinwüste nach Opalen suchen und der Polizist nach einer Aboriginal-Frau, die vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Auch „Tótem“, „Le Grand Chariot“ und der spanische Beitrag „20.000 Species of Bees“ überzeugen in ihrem Fokus auf ein familiäres Gefüge, in dem große gesellschaftliche Konflikte intensiv im Privaten verhandelt werden – wenn auch ästhetisch sehr konventionell, weshalb man sich über Garrels Regie-Preis doch wundert. Den Schauspiel-Bären bekam, als jüngste Gewinnerin aller Zeiten, die achtjährige Sofía Otero für ihre Hauptrolle als trans Mädchen in „20.000 Species of Bees“. Für die beste Nebenrolle wurde Thea Ehre ausgezeichnet, sie spielt in Christoph Hochhäuslers Film noir „Bis ans Ende der Nacht“ eine trans Femme fatale. Wer hier von politisch motivierten Preisen sprechen will, hat die fantastischen Darbietungen und auch Filme wahrscheinlich nicht gesehen.

Die Bären
Goldener Bär: Sur l’Adamant von Nicolas Philibert
Großer Preis der Jury: Roter Himmel von Christian Petzold
Preis der Jury: Mal Viver von João Canijo
Beste Regie: Le Grand Chariot von Philippe Garrel
Beste Hauptrolle: Sofía Otero in „20.000 Species of Bees“
Beste Nebenrolle: Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“
Bestes Drehbuch: Angela Schanelec für „Music“
Herausragende Künstlerische Leistung/Kamera: Hélène Louvart für „Disco Boy“

Insgesamt jedoch ließen eher wenige Beiträge des Wettbewerbs die Zuschauer begeistert, inspiriert oder zumindest überrascht zurück. Es fehlte an erzählerischem und visuellem Wagemut, dieser war stattdessen in der von dem künstlerischen Festivalleiter Carlo Chatrian ins Leben gerufenen Sektion „Encounters“ zu finden, wo großartige Filme wie „Das Echo“ über den Alltag in einem entlegenen mexikanischen Dorf, „In Water“ über einen jungen Schauspieler, der Regie führen will, oder „Orlando, my Political Biography“ über eine persönliche Transformation im Dialog mit Virginia Woolf liefen. Anstatt solche Titel, vielleicht aus Sorge damit, den Anschluss an den Mainstream zu verlieren, in eine gesonderte Sparte abzuschieben, sollte man vielleicht darüber nachdenken, den Wettbewerb für sie zu öffnen.

Eine erfreuliche Überraschung in diesem Jahr waren die deutschen Filme. Emily Atefs erotische Wende-Geschichte „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“, Christoph Hochhäuslers frische Noir-Interpretation „Bis ans Ende der Nacht“, Angela Schanelecs mythische Traumreise „Music“, Christian Petzolds Ode an die deutsche Romantik „Roter Himmel“, die verdient den Großen Preis der Jury gewann. Und auch Margarethe von Trottas „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ hatte tolle Momente, wobei die Erben von Max Frisch das wahrscheinlich anders sehen würden. Vielleicht trägt die angekündigte Reform der Filmförderung dazu bei, dass zu diesen alten Verdächtigen bald auch mal wieder deutscher Nachwuchs stößt.

Selten musste eine Berlinale so vielen Ansprüchen genügen wie diese 73. Ausgabe. Bei manchen ist es gelungen, bei anderen nicht. Der wichtigste allerdings ist erfüllt: Man freut sich wieder auf nächstes Jahr.