Chef der Yorck-Kinos: „Es fehlen deutsche Filme auf internationalem Niveau“

Wie geht es den Kinos und der Filmbranche? Christian Bräuer über Qualitäts- und Marketingprobleme, das reformbedürftige Fördersystem und Hoffnungsschimmer.

Christian Bräuer im  Delphi Lux Kino, das zur Yorck-Gruppe gehört.
Christian Bräuer im Delphi Lux Kino, das zur Yorck-Gruppe gehört.Berliner Zeitung/Markus Wächter

In der deutschen Filmbranche herrscht Alarmstimmung. Dieser Eindruck entstand zumindest bei der jüngsten Filmpreis-Verleihung, dort sah sich jeder zweite Redner genötigt, auf die Bedeutung des Kinos als Kulturort hinzuweisen oder laut darüber nachzudenken, wie man das Publikum zurückholen könnte. Ist die Situation wirklich so schlimm? Haben die Kulturhilfen das Kinosterben gar nur herausgezögert? Yorck-Chef Christian Bräuer erklärt, wie zwei Jahre Pandemie, Streaming und die Sozialen Medien die Branche verändert haben.

Herr Bräuer, der deutsche Kinomarkt liegt aktuell noch 40 Prozent hinter Vorkrisenniveau. Wie läuft es für die Yorck-Kinos?

Die Yorck-Kinos sind „nur“ bei einem Minus von knapp 30 Prozent. Wobei man dazusagen muss, dass das natürlich mehrere Kinos sind, es gibt da eine Spreizung. Es gibt aktuell sogar Kinos, die deutlich bessere Zahlen schreiben als vor der Pandemie, jedenfalls in den letzten Monaten. Um das etwas zu spezifizieren: Wir sehen, dass Kino da gut funktioniert, wo gute Filme eingesetzt werden. Im Neuen Off zum Beispiel läuft schon seit fast drei Monaten „Everything Everywhere All at Once“. Dort sind die Zahlen besser als vor Corona. Wir sehen auch, dass Modernisierungen Zuschauer in die Häuser bringen, so zum Beispiel im Passage Kino in Neukölln. Im Juni waren die Yorck-Kinos im Schnitt sogar nur noch drei Prozent im Minus gegenüber 2019.

Wie verändert sich die Demografie?

Wir sehen vor allem in der älteren Generation, dass da teilweise noch mehr Vorsicht herrscht oder man sich dort vielleicht einen Alltag angewöhnt hat, der sich stärker um die eigene Wohnung herum abspielt.

Die jungen Menschen sind also gar nicht das Problem, wenn es um schwindende Besucherzahlen geht? Diese Annahme geistert ja durchaus herum.

Nein, wir sehen sogar etliche junge Menschen, die vor der Pandemie nicht in unseren Kinos waren und jetzt regelmäßig kommen. Es gibt eine generelle Verjüngung des Publikums. Aber man muss natürlich auch bedenken, dass die Pandemie noch nicht hinter uns liegt, wir sind noch mittendrin.

Dr. Christian Bräuer
leitet seit 2004 die Yorck-Kino GmbH. Zu ihr gehören in Berlin 14 Kinos, darunter das Kino International, das Filmtheater am Friedrichshain oder das Kino Babylon in Kreuzberg. 2007 wurde er in den Vorstand der AG Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater e.V. gewählt. Im September 2009 übernahm er dort den Vorstandsvorsitz.

Sie haben eben gesagt, dass Kino nur mit guten Filmen funktioniert. Gibt es davon aktuell zu wenig?

Absolut. Das ging eigentlich mit der Delta-Welle los. Da haben viele Verleiher Filme verschoben. Zugleich fehlten insbesondere im europäischen Kino große Filme, das hat man auch den Festivals im letzten Jahr angemerkt. Der Wettbewerb in Cannes war in diesem Jahr zum Glück schon wieder viel besser als 2021.

Beim Deutschen Filmpreis hat ein einziger Film, „Lieber Thomas“, in diesem Jahr quasi alles gewonnen.

Genau, und „Lieber Thomas“ ist absolut nichts vorzuwerfen. Aber wenn es das dann schon war, muss man halt sagen, da fehlen tatsächlich zugkräftige deutsche Filme auf einem internationalen Niveau.

Allerdings sehen wir auch, dass es kulturelle Vielfalt im Moment generell sehr schwer hat. Das liegt an einer generellen Eventisierung sowie an der Funktionsweise der sozialen Medien. Das bedienen die großen Studios mit global angelegten Marketingkampagnen bestens, wie zum Beispiel „James Bond“, „Batman“, „Spider-Man“ oder „Top Gun“ beweisen. Diese groß angelegten Strategien passen viel besser zur Logik der Algorithmen und zu der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien. Da werden Hypes belohnt und noch potenziert.

Kulturelle Vielfalt bedeutet aber, dass es noch mehr geben muss. Darauf ist das Internet aber nicht ausgerichtet. Wir sehen das, wenn wir Werbung über die sozialen Medien schalten. Wenn das geteilt wird, freut sich der Algorithmus, die Werbung wird günstiger, das wird also honoriert. Wenn es aber um Dinge geht, auf die man sich erstmal einlassen muss, teilt es keiner, das versandet. Da brauchen wir tatsächlich neue Strategien. Was sich bewährt, übrigens auch im Ausland, sind Events um Filme herum. Wenn ein Völker Schlöndorff durchs Land reist und seinen Film präsentiert, sind die Leute da. Am Tag davor und danach wird es dann oft schon schwierig.

Also hat der deutsche Film vielleicht eher ein Marketing- als ein Qualitätsproblem?

Beides. Es fehlen wagemutige Filme. Aber wir müssen uns eben auch Gedanken machen, wie die guten Produktionen ihre verdiente Aufmerksamkeit erlangen. Zum Beispiel müssen wir uns fragen, ob es noch einen Sinn ergibt, wenn ein Film aus Cannes, der gerade international startet und in den sozialen Medien für Gesprächsstoff sorgt, in Deutschland erst Monate später in die Kinos kommt.

Christian Bräuer: „Wir müssen bei den Förderungen Strukturen hinterfragen. Ansonsten verliert der deutsche Film weiter den Anschluss.“
Christian Bräuer: „Wir müssen bei den Förderungen Strukturen hinterfragen. Ansonsten verliert der deutsche Film weiter den Anschluss.“Berliner Zeitung/Markus Wächter

Es gab schon vor der Pandemie den Trend, dass immer mehr einzelne große Filme die Zuschauer auf sich vereinen. Haben es die Arthouse-Filme es jetzt noch schwerer?

Nicht unbedingt, denn auch diese können mit geschickten Kampagnen zum Hype werden, ihr eigenes Momentum entwickeln. „Everything Everywhere All at Once“, „Parasite“, „Systemsprenger“, „Nomadland“ oder „Der Rausch“ sind da sehr gute Beispiele. Aber was machen wir mit den Filmen, die bei der Berlinale oder in Cannes gut gelaufen sind, vom Publikum, der Jury und der Kritik gut angenommen wurden, aber trotzdem nicht zu den Menschen durchdringen? Filme, die sich der Vermarktbarkeit durch soziale Medien entziehen? Da brauchen wir Analysen und neue Ideen. In den Yorck-Kinos ist ein Ansatz unser Abo-Modell Yorck-Unlimited, bei dem man für 20 Euro im Monat unbegrenzt ins Kino gehen kann. Das verleitet zum Entdecken. Und der Großteil unserer Abo-Neukunden sind Menschen unter 30. Das ist ein großer Erfolg, der vor allem kleinen Filmen hilft.

Wird in Deutschland zu viel produziert?

Ich weiß nicht, ob zu viel. Es herrscht Vollbeschäftigung, und diese Auftragslage gönne ich erstmal allen. Ich glaube aber, dass wir in der Kinofilmproduktion einen Paradigmenwechsel brauchen. Wir haben eine Förderlandschaft, die sich letztlich auf das Finanzieren von Produktionen beschränkt. Was fehlt, ist der Blick für das Publikum. Für wen wird dieser Film gemacht? Und es fehlt die Einsicht, dass Kino Kinogeschichten braucht. Oft werde ich in Bezug auf eingereichte Drehbücher gefragt, ob das Thema passt. Falsche Frage! Wichtig ist, ob die Dramaturgie passt. Und ob die filmische Umsetzung die große Leinwand braucht.

Bei den Stoffen fehlt uns ganz offensichtlich Originelles, Kreatives, und da fehlt auch die Vielfalt, die wir in der Gesellschaft haben. Damit sich da etwas ändert, müssen wir bei den Förderungen Strukturen hinterfragen. Ansonsten verliert der deutsche Film weiter den Anschluss.

Kommen wir zurück zu den Kinos: Welche Hilfen gibt es aktuell noch und wie ist die Stimmung bei den Betreibern?

Für den Moment kann man nach wie vor sagen: Allein wegen der Pandemie musste noch kein Kino in Deutschland schließen. Es lief anfangs ruckelig mit den Hilfen, aber dann hat der Staat doch relativ schnell und wirkungsvoll die Kulturorte in den Blick genommen. Momentan gibt es noch bis Ende Juni Überbrückungshilfen, bis Ende des Jahres den Sonderfonds Kulturveranstaltungen. Ich nenne das gerne Schwimmflügelprogramme. Die Kulturorte können damit nicht untergehen, aber auf eigene Füße kommen sie auch nicht. Wenn ich als Betreiber etwas besser dastehe, bekomme ich weniger Hilfen. Das ist schön für den Steuerzahler und die Filmschaffenden, aber es können keine Rücklagen für Investitionen gebildet oder Darlehen getilgt werden.

Arthouse-Kinos zu betreiben bedeutet, auf Gewinnmaximierung zu verzichten, um einen wichtigen Kulturbeitrag zu leisten. Es ist ein Geschäft von der Hand in den Mund. Insofern hatten wir Glück, dass 2019 ein sehr gutes Kinojahr war und die Pandemie an einen sehr guten Winter anschloss. Dennoch muss man ganz klar sagen: Die Filmwelt hat sich in den vergangenen zwei Jahren erheblich beschleunigt und wir standen still.

Ganz im Gegenteil zu den Streaminganbietern. Wie ist es momentan um das Kräfteverhältnis zwischen Verleihern und Kinos bestellt? Schrumpft der Hebel der Kinos, weil es so viele neue Kunden im Streaming-Bereich gibt?

Wir sind definitiv schwächer geworden. Gerade gegen die großen Unternehmen. Aber die derzeitigen Kräfteverhältnisse sind natürlich nicht in Stein gemeißelt und auch die aktuellen Korrekturen am Streamingmarkt zeigen, dass sich die gesamte Branche nach Corona noch immer im Umbruch befindet.

Christian Bräuer vor dem Delphi Lux Kino
Christian Bräuer vor dem Delphi Lux KinoBerliner Zeitung/Markus Wächter

Wie ist die aktuelle Situation bezüglich der Kinoexklusivität, also der Zeit, die ein Film nirgendwo anders laufen darf? Früher galt diese in der Regel vier Monate lang, in der Pandemie hat sich das verändert.

Während der Pandemie haben die Studios damit experimentiert, diese Fenster zu verkürzen oder sogar ganz zu streichen – ohne den gewünschten Erfolg. Bei den großen Studios haben sich aktuell 45 bis 60 Tage eingependelt, es gibt da aber mittlerweile ganz unterschiedliche Auswertungsstrategien. Manche haben ihre eigenen Streaming-Plattformen und opfern für diese Gewinne an der Kinokasse, andere nicht.

Lässt sich abschätzen, welche Auswirkung das auf die Kinobesuche hat?

Wir und auch die Studios sehen: Filme mit exklusivem Fenster laufen besser. Die Kinos sind natürlich noch nicht wieder auf ihrem vorpandemischen Niveau, deshalb kann man nur bedingt Schlüsse ziehen. Aber es fällt schon auf, auch international: Wenn ein Streaming-Anbieter, egal welcher, etwas in den Kinostart von Filmen, die auch für die große Leinwand gemacht sind, investiert, dann hat das einen Effekt. Das sahen wir zum Beispiel bei „Macbeth“ von Apple sehr gut. Aber etwas einfach parallel zum Streaming auch im Kino wegzusenden, funktioniert nicht, das hat offenbar für die Zuschauer keinen Reiz.

Befürchten Sie bei den Kinos einen Innovations- und Investitionsstau?

Die Gefahr besteht, dabei gibt es viel zu tun, und die drastisch gestiegenen Kosten tun ihr übriges. Wir müssen die Häuser modernisieren und wir müssen in Technik zur Kundenkommunikation investieren. Neben den Hilfsprogrammen gibt es zum Glück noch ein wichtiges Fördermittel, das Zukunftsprogramm Kino. Das unterstützt Investitionen von Arthouse- und Landkinos und wurde schon vor der Pandemie gestartet, weil auch da schon klar war, dass bei diesen Kinos nie so große Gewinne gemacht werden können, um die Häuser zu erhalten. Dieses Programm muss unbedingt verlängert und angemessen ausgestattet werden. Zugleich werden die Kulturorte wohl auch im Winter wieder Hilfen benötigen. Mir wäre es natürlich lieb, wenn keine neuen Auflagen erforderlich würden, aber das ist nach der Erfahrung der letzten Jahre eher nicht zu erwarten.

Wie blicken Sie auf die Zeit nach dem Sommer?

Filmisch freue ich mich auf den Herbst. Mit dem Cannes-Gewinner „Triangle of Sadness“ startet im Oktober der Film des Jahres, und auch viele weitere Filme von der Croisette und sicher aus Venedig stehen an. Aber natürlich blicke ich auch mit gewissen Sorgenfalten auf die kommenden Monate. Die politische Kommunikation im letzten Winter war sehr unglücklich. Wir brauchen in diesem Jahr klare, verständliche, verbindliche und vor allem verhältnismäßige Ansagen für die Kinos. Keine neuen Beschlüsse im Wochenrhythmus. Und wenn es neue Auflagen gibt, halten wir sie gerne ein, wünschen uns aber, dass dann nicht trotzdem weiterhin vor dem Kinobesuch gewarnt wird, obwohl kein Filmtheater in dieser Pandemie zum Infektionsherd wurde. Mit pauschalen Warnungen vor Innenräumen zerstört man viel, und darunter leidet dann die ganze Branche, inklusive den Filmemachern.