Der professionelle Plebejer Sir Michael Caine hat sie alle überlebt
Einmal Cockney, immer Cockney: Der Schauspieler Sir Michael Caine steht für das Gegenteil von dem, was man die feine englische Art nennt. Nun wird er 90.

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich die Schulweisheit bis heute nichts träumen lässt. Und exakt dort, hoch über den Dächern Londons, ist auch seit längerem schon Michael Caines Lieblingsort: auf dem Balkon seines Apartments in einem mondänen Wohnturm am Chelsea Harbour, wo die Themse den schicken Stadtteil Chelsea von den Glasscherbenvierteln Südlondons teilt. Da steht er gerne, lässt das Eis in seinem Glas klingen und schaut auf sein Leben – und zwar buchstäblich, denn der Blick reicht bis zu seinem alten Kiez am Elephant and Castle, wo er einst als Maurice Micklewhite aufwuchs, in einem Haus ohne Strom und ohne Warmwasser.
Am heutigen 14. März, an seinem 90. Geburtstag, geht sein Blick und auch sein Glas ganz bestimmt auch mal nach oben, wo seine alten Weggefährten herunterprosten aus dem Pub namens Ewigkeit: Sean Connery, Albert Finney, Bob Hoskins, Oliver Reed. Michael Caine, der selbst in dieser Reihe wunderbarer britischer Misfits noch the odd one out war, dessen Gesicht eine Provokation, dessen Sprache eine Unverschämtheit, ja dessen generelles Auftreten das krasse Gegenteil von all dem war, was man unter der feinen englischen Art verstand, dieser professionelle Plebejer also hat sie alle überlebt. Cheers, mate! Und sagen Sie nicht „Sir“ zu ihm. Er sei zwar durchaus stolz auf die Auszeichnung, sagt er, erwarte aber nicht, dass ihn jetzt alle so anreden. „Ich wurde ja zum Sir, weil ich nie ein Sir war.“
„Ein Cockney bleibt immer ein Cockney“
Letzten Endes liegt genau hierin sein Geheimnis und sein Verdienst. „Glaub nicht, dass du was anderes sein kannst als das, was du bist. Ein Cockney bleibt immer ein Cockney“, so hat es ihm einst sein Vater auf den Weg gegeben, der am Billingsgate-Fischmarkt für drei Pfund die Woche Kisten schleppte. Maurice Micklewhite Sr. starb 1955 und erlebte nicht mehr, dass sein Junge dies auf so einzigartige Weise beherzigte, dass er dafür weltberühmt wurde – und mit seinen Filmen, seiner Person, seinem Leben zum Teil des kulturellen Gedächtnisses.
So gehört etwa die Frage, welches Buch der von Michael Caine gespielte Gangster auf der Zugfahrt in der Eröffnungssequenz von „Get Carter“ liest, längst zum Repertoire von jedem Pubquiz – es ist Raymond Chandlers „Farewell My Lovely“. Und der Satz „You were only supposed to blow the bloody doors off“ aus „The Italian Job“ ist heute in England der gängige Ausdruck dafür, dass jemand über sein Ziel hinausgeschossen ist. Als der Film ins Kino kam, 1969, hatte ein solcher Spruch noch etwas Ordinäres. Und der Urheber galt in der britischen Öffentlichkeit als low-life und Schrecken der Musen.
Briten im Film waren bis weit in die 60er-Jahre überkandidelte Upper-Class-Snobs oder tumbe Toren mit dem Herz am rechten Fleck und dem Porträt der Queen in der Brusttasche darüber. Einen Typen wie diesen hatte man noch nicht gesehen. „Michael Caine“, schrieb einst ein Kritiker, „machte das Ordinäre sexy.“ Er selbst sagte einmal: „Ich hatte zwei Ziele: Ich wollte mindestens so viel Geld verdienen, wie ich als Fabrikarbeiter bekam. Und ich wollte die Leute aus der Arbeiterklasse so darstellen, wie sie wirklich sind. Die Jungs, die ich kannte, waren keine doofen, gutmütigen Jammerlappen, die ständig vor irgendwem den Hut ziehen, sondern Burschen, die denken und zulangen können.“
Der Junge mit dem verschleierten Blick
Seine Chance kam in den 50ern, als eine Kleinkunstbühne in Horsham per Aushang einen Kulissenschieber suchte. Der junge Micklewhite, für den das Theater und das Kino die einzigen Fenster in die Welt jenseits der Londoner Docklands waren, wo selbst durch den Spielplatz, der an ein besseres Viertel grenzte, eine Linie verlief, die die Kinder nach Klassen trennte, Micklewhite jedenfalls schmiss seine Lehrstelle bei der Post und blickte nicht mehr zurück.
Zum Film kam er nicht lange später über seinen Kumpel John Barry, den er als Barpianisten aus dem Nachtleben in Soho kannte. Barry hatte den Auftrag für einen Filmscore ergattern können, für einen Abenteuerfilm aus der Zeit der Zulu-Kriege, und er wusste, dass man noch ein paar Cockneys suchte für die Mannschaftsdienstgrade der britischen Kolonialarmee. Der Hauptdarsteller und Produzent Stanley Baker fraß jedoch einen Narren an dem Jungen mit diesem leicht verschleierten Blick, der zu seinem Markenzeichen werden sollte – und bot ihm den Part des aristokratischen Leutnants Bromhead an. Der Rest ist Geschichte. Michael Caine, wie er sich da schon nannte, stahl allen die Schau, „Zulu“ kam 1962 in die Kinos und wurde ein Kassenknüller, und als dann auch noch rauskam, wer Bromhead war, drehten erst recht alle durch: „Ein Lad vom Elephant and Castle – eine Sensation“, schrieben die Zeitungen.
Und im Grunde natürlich ein Etikettenschwindel. Was er durch diesen anrichtete, wirkt bis heute nach – lieferte er doch gleich in mehrfacher Hinsicht den Beweis dafür, dass die herrschende Klasse ihre Macht nur aus ein paar albernen und umso hartnäckiger verteidigten Insignien bezog. Danach war nichts mehr so, wie es war. Umso weniger, als es sich der Mann nun zur Mission machte, seinesgleichen für all die Jahre der Unterdrückung zu entschädigen, indem er sie in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte.
So war er Vorstadt-Hallodri in „Alfie“, krimineller Parvenue in „The Italian Job“, Profikiller in „Get Carter“, aber immer der ordinary lad, der dem Schicksal mit Witz und Würde entgegentritt, am Ende aber doch darin gefangen bleibt. In seinen populärsten Filmen war er fast durchweg der Verlierer – aber er hat dabei das Verlieren in eine schöne Kunst verwandelt. Und selbst spätere Rollen wie den Abtreibungsarzt in „Gottes Werk und Teufels Beitrag“, für den er einen Oscar bekam, oder den mysteriösen Milliardär in „Die Unfassbaren“ glich er irgendwie seinem Wesen an und seiner Geschichte. Er sagt: „Ich war mein halbes Leben ein Verlierer, und auch wenn ich nun schon genauso lang ein Gewinner bin, kann ich nicht einfach die eine Hälfte aus meinem Leben tilgen.“
Wer den 90. Geburtstag von Michael Caine gebührend feiern will, sollte sich ein Pint Lager eingießen und den Song auflegen, den ihm die nachgewachsenen Cockneys der Band Madness einst widmeten; den Kehrreim „My name is Michael Caine“ spricht er selber. Und hat er je schöner verloren? Zeitgleich zu „Michael Caine“ von Madness brachte das Mädchentrio Bananarama eine Single mit dem Titel „Robert De Niro's Waiting“ heraus – und sie stieg prompt um einen Platz höher in die Chats ein.