Der Zensur entrissen: Der Film „322“ von Dusan Hanak ist eine Sensation
Mit der Reihe „Exil im Filmarchiv“ widmet sich das Arsenal Filmen, die teils fast zufällig, teils unter erheblichen Risiken gerettet wurden.

„322“ lautet der Kurzformel für die Krankheit, die bei einem Schlachthof-Mitarbeiter in Bratislava diagnostiziert wird. Der Mann namens Lauko nimmt die unfreiwillige Auszeit zum Anlass, sich durch seine Heimatstadt und über deren Ränder hinaus treiben zu lassen. Er fährt aufs Land, um das Grab seiner Mutter zu suchen. Dieses ist ebenso wenig auffindbar wie andere Spuren der Vergangenheit.
Die ländliche Struktur scheint erodiert, löst sich in Dreck und Ruinen auf. Nach und nach wird klar, dass Lauko an diesem Desaster nicht unbeteiligt ist. In den 50er-Jahren war er einer der kommunistischen Funktionäre, die hier mit brutalen Mitteln die Zwangskollektivierung vollstreckten. Längst hat er bereut. Seit Jahren besteht sein Leben aus Buße, alle Schicksalsschläge nimmt er geduldig als Strafe für seine Sünden als Jugendlicher hin, auch die Krankheit „322“.
Genau so heißt auch der Spielfilm des slowakischen Regisseurs Dusan Hanak. Diese Arbeit kann nicht anders als eine filmische Sensation beschrieben werden. In einer offenen, dabei ästhetisch verstörenden, zugespitzten Struktur erzählt er die letzten Stunden des gestrauchelten Funktionärs als universelle Passion. Er stellt die Glorie realsozialistischer Heldenerzählungen vom Kopf auf die Füße, doch es genügt ihm nicht, inhaltliche Tabus zu brechen. Er geht auch formal derart innovativ vor, dass er dem westlichen Kino jener Zeit (Godard, Pasolini, Bergman usw.) in keiner Weise nachsteht. Handlungsinseln werden durch dokumentarische Einschübe spielerisch verbunden, immer wieder brechen Phantasmen in wechselnden Formen ein, übernimmt die tanzende Logik von Träumen die Regie.
„Exil im Filmarchiv“: Vor der Zensur gerettet
1969 fertiggestellt, also zeitgleich zum Einsetzen der euphemistisch als „Normalisierung“ bezeichneten Re-Stalinisierung in der ČSSR, wurde das Meisterwerk „322“ sofort verboten. Dass überhaupt eine unzerstörte Kopie die Zensur bis heute überlebt hat, ist dem Archiv des Arsenal-Kinos zu verdanken. Die 25 Kilo schwere Filmkiste war damals von Fee Vailant, der damaligen Leiterin des Mannheimer Festivals, im Privat-Kfz aus der Tschechoslowakei herausgeschmuggelt worden.
Mit der Reihe „Exil im Filmarchiv“ verweist das Arsenal auf weitere, ähnliche Schicksale von Filmen, die teils fast zufällig, teils unter erheblichen Risiken in Sicherheit gebracht wurden. All diesen Werken ist gemein, nach ihrer Vollendung durch drastische politische Veränderungen plötzlich nicht mehr in das Selbstdarstellungsprofil ihrer Ursprungsländer zu passen. Diese Zäsuren fanden meist in Verbindung mit Gewaltherrschaft (Griechenland, Chile), sich plötzlich verschärfenden Zensurbestimmungen (China) oder eben durch Okkupationen (ČSSR) statt. Mit dem aktuellen Programm setzt das Arsenal seine öffentliche Selbstbefragung als Ort des Findens, Bewahrens und Sichtbarmachens fort. Dabei wird deutlich, dass nicht nur Filme Geschichten erzählen, sondern auf ihrem Weg bis zur Wahrnehmung auf der Leinwand oft selbst dramatische Situationen durchlaufen. Und um Diktaturen ihre Deutungshoheit zu entreißen, bedarf es manchmal des mutigen Eingreifens.
There’s a Strong Wind - Exil im Filmarchiv bis 21. August. „322“ läuft am 9. August um 20 Uhr.