„Die Eiche – Mein Zuhause“: Nach diesem Film blickt man anders auf Bäume
Naturdokus beleuchten normalerweise spektakuläres Leben in exotischen Gefilden. Dieser Film zeigt, wie schön und aufregend es rund um eine Eiche zugeht.

Die eine Hauptdarstellerin dieses Films bewegt sich nicht vom Fleck. Es ist eine reichlich 200 Jahre alte, weit ausladende Eiche. Das Regie-Duo Laurent Charbonnier und Michel Seydoux hat sie in Frankreich am Rande eines Mischwalds neben einem Teich gefunden. Sie ist zugleich der Wohnort und Ernährer all der anderen Akteure von „Die Eiche – Mein Zuhause“, einer Naturdoku, die man, ohne zu übertreiben, einen Abenteuerfilm nennen kann. An der Eiche zaust der Wind, auf sie peitscht der Regen, treffen warme Sonnenstrahlen. In ihr, auf ihr, um sie herum tobt das wilde Leben.
Dieser Film kommt ohne Worte aus und erzählt doch sehr viel. Übers Jahr folgen wir dem Alltag eines Eichhörnchens, eines Eichelhäher-Paars und einer großen Gemeinschaft von Waldmäusen. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Eichelbohrer aus der Familie der Rüsselkäfer, fürs menschliche Auge bloß mückengroße Krabbeltiere. Die Kamera zeigt sie in extremer Vergrößerung, sodass ihre haarigen Gliedmaßen, die kreisrunden schwarzen Augen, die mehrfach gefalteten Flügel genau zu erkennen sind. Vor allem der körperlange Rüssel: Das Weibchen bohrt ihn in eine nicht ausgereifte Eichel, um darin ihre Eier abzulegen. Wir sind dabei, wenn sich später eine dicke weiße Larve durchs Loch zwängt. Wie die sich nach einer Weile verpuppt und langsam in einen neuen Käfer verwandelt, als würde sie sich durch einen weißen faserigen Umhang hakeln, das wirkt wie eine Gespenstershow.
Das große Wort von der Biodiversität bekommt mit diesem Film eine Erzählung. Die Eicheln stehen bei vielen Gästen auf dem Speiseplan. Das Eichhörnchen angelt sie sich possierlich vom Zweig, ein Reh, ein Hirsch äsen scheu in der Nähe, eine Wildschweinrotte mit Frischlingen pult die Früchte zwischen Moos und Laub hervor. Nachts kommt noch mal ein Borstentier vorbei, um sich ausgiebig am Stamm des Baums zu schubbern. Mäuse schaffen Eicheln in ihre Höhle zwischen den Wurzeln. Die Schleiereule schaut sich das nicht lange an, fliegt los und – husch! – dieses eine Mäuschen springt gerade noch weg.

Der kleine Käfer mit dem langen Rüssel könnte auf seiner Route um den Baum auch auf der Zunge des Froschs oder im Schnabel der Kohlmeise landen. Oder beim Eichelhäher-Paar, das zu den bewunderungswürdigen Stars der 80 spannenden Minuten gehört. Die Vögel mit dem auserlesenen Federkleid und der Krächzstimme sind in ihrer Treue zueinander und mit kleinen Streits zu erleben, der Regen lässt sie wie Punks aussehen, der Frühling treibt sie zum Nestbau. Wie eine Jagd in einem „Harry Potter“-Film ist der gefährliche Flugwettbewerb zwischen einem der beiden Häher und einem Habicht zu erleben, in Slow Motion wird die unterschiedliche Flugtechnik sichtbar, und doch ist das Ganze rasant, untermalt von einem großen Orchester.
Musik übernimmt die Kommentierung in diesem Film. Eine mit einer Händel-Arie dramatisierte Szene, Jazz- und Latino-Elemente sind dabei die etwas aufdringlichen Ausnahmen, die längere Bildsequenzen begleiten. Meist ist die Musik sparsam als Verstärker eingesetzt, dass man mit ihr Bewegungen, aber auch die Tierstimmen, das Rascheln der Blätter und Knacken der Äste bewusst wahrnimmt.

Naturdokumentationen führen üblicherweise in entlegene Gegenden, an den Nordpol oder in den Regenwald, bringen das Exotische nahe. Der Co-Regisseur Laurent Charbonnier war zum Beispiel für die Kamera der Doku „Nomaden der Lüfte“ von 2001 verantwortlich, die über die Kontinente reiste. Hier aber bleibt an einem Ort wie aus unserer Nachbarschaft das ganze Geschehen konzentriert. Dass es so vielfältig wirkt, so viel Veränderung drinsteckt, liegt an der Aufmerksamkeit, Sensibilität und technischen Finesse des Filmteams. Letztlich aber ist es dem Reichtum der Natur selber zu danken, dass sich um einen mitteleuropäischen Baum solche Abenteuer ansiedeln. Die Botschaft ist klar.
Die Eiche – Mein Zuhause. Frankreich 2022. Regie: Laurent Charbonnier und Michel Seydoux. 80 Minuten