Wie es sich zu DDR-Zeiten in Prenzlauer Berg und Mitte wirklich wohnte
Das Filmfestival Prenzlauerberginale zeigt umwerfende Dokumentaraufnahmen aus den Siebzigern und Achtzigern, die keiner Propaganda dienten.

Der Benzinmangel erweist sich heute, 40, 50 Jahre und einen Systemzusammenbruch später, für Berlin als Glücksfall. Nur 70 Liter im Monat hatten die Filmemacher der SFD monatlich zur Verfügung. Sie drehten also vor allem in der Hauptstadt der DDR. SFD nie gehört? Es ist die Abkürzung für die Staatliche Filmdokumentation der DDR, in deren Auftrag zwischen 1971 und 1986 rund 300 Berichte über den Alltag in diesem Land entstanden. Das Material war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wurde für zukünftige Generationen archiviert, um später einen unverstellten Blick auf eine sozialistische Gesellschaft im Aufbau zu ermöglichen, wie es auf der Webseite der Prenzlauerberginale heißt, die Stephan Müller nun zum sechsten Mal organisiert. Das kleine Filmfestival zeigt am 13. September im Filmtheater Friedrichshain verschiedene Ausschnitte aus SFD-Berichten von 1979 bis 1985 zum Thema Wohnen, die alle in Mitte und Prenzlauer Berg entstanden sind.
Die DDR filmte sich also selbst und die Ergebnisse sind umwerfend. Da ist die Dokumentation mit dem Titel „Ehekredit“, sie führt einen in die Wohnung von Sabine Möller, ihrem Mann, dem Universaltransportarbeiter Gerd, und ihrem kleinen Kind in der Christburger Straße 39 in Berlin-Prenzlauer Berg. Eineinhalb Zimmer mit Innentoilette, aber ohne Bad für 28,95 Mark.
Die beiden geben dem Filmteam eine Tour entlang ihrer Habseligkeiten, den selbst tapezierten Flur mit dem Schuhschrank Marke Eigenbau. Die Windeln hängen zum Trocknen am Kachelofen, denn die Küche können sie nicht auch noch heizen. Im Winter trocknen sie auf dem Ofen auch die Stiefel und den Fernseher haben sie von der Oma bekommen. In der Vitrine steht eine Vase, die Gerd Möller aus Wäscheklammern gemacht hat, genau wie den kleinen Deko-Schaukelstuhl. Jedes Ding ist kostbar, das war lange vor der Wegwerfgesellschaft.
„Der Knopf bleibt zu, amore mi-hi-o“, klingt es aus dem Stern-Recorder
„Da hat sich der Staat was Schönes einfallen lassen“, sagt Sabine Möller über den Ehekredit, und schon sitzen die Eheleute einer Sparkassenmitarbeiterin gegenüber und erledigen die Formalien. Bald steht in dem kleinen Wohnzimmer das Sehnsuchtsobjekt Schrankwand, die ihnen auf dem Plan so gut gefallen hat und jetzt überdimensioniert erscheint in dem Zimmer, in dem nicht nur das Kinderbettchen, sondern auch ihre Schlafcouch steht. Für eine neue Couchgarnitur hat das Geld nicht gereicht und beim Stern-Recorder mussten sie dazuzahlen. Hier sprechen keine Proletarier mit festen Klassenstandpunkt, sondern mit Hang zum Kleinbürgerlichen.

Jetzt erklingt Roland Kaiser: „Nach vier, fünf Rotwein, amore mio, bist du nicht zu halten. Sei doch vernünftig, amore mio, und denk an die Kinder. Der Knopf bleibt zu, amore mi-hi-o“. Sabine Möller sagt zu ihrem Mann: „Mach mal den Fernseher an, dass die mal sehen, wie schön der läuft.“ Der ist nämlich auch neu.
Wie hier Menschen ihre Wohnbedingungen beschreiben, das ist Volkskunde, visuelle Anthropologie. Und die Filmemacher sind Feldforscher, die sich in den Lebensraum ihrer Forschungsobjekte begeben und dort Informationen sammeln. Die Zeit und das Land scheinen so weit entfernt, dass man meint, eines fremden Stammes ansichtig zu werden, auch wenn man diese Welt vielleicht selber noch kennt. Es ist eine schier wissenschaftliche Genauigkeit in diesen Beobachtungen, eine Einladung, dieser Zeit hinterher zu trauern verbindet sich damit nicht.
Bärtige in ultrakurzen Hosen auf den Straßen in Prenzlauer Berg
Das gilt auch für „Bilder auf Höfen“, der ebenfalls am 13. September zu sehen sein wird. Er bringt einen nach einem kurzen Schwenk durch Straßen, auf denen bärtige Männer in ultrakurzen Jeanshosen laufen und lauter Trabis parken, in verschiedene Hinterhöfe in Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg, die Anwohner mit Wandmalereien und Pflanzungen verschönert haben. Es ist der Sommer des Jahres 1984. „Kinderreich 1982“ führt einen nach Mitte, in eine Wohnung in der Schwedter Straße, wo eine Frau mit ihrem Freund und vier Kinder in einer Dreizimmerwohnung lebt. Sie würde sich auch eine Wohnung wünschen, in der alles funktioniert und warmes Wasser aus der Wand kommt, sagt sie. „Nach Marzahn möchte ich nicht, ich würde mich dort bestimmt nicht wohlfühlen.“ In die Neubaugebiete zogen damals viele.
Ein anderes Beispiel zeigt offen die Defizite der Wohnungswirtschaft und gleichzeitig, wie wenig Propaganda das Material der SFD beinhaltet: Erika Strassner, 40 Jahre alt, die mit Sohn und Tochter sowie deren Baby in einem Hinterhaus wieder in der Christburger Straße wohnt. 1976 ist ihr die Wohnung zugewiesen worden. „Als wir die Räume sahen, waren wir bedient“, sagt sie. Es habe nicht mal eine Wasserleitung oder ein Waschbecken gegeben. „Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich diese Wohnung einigermaßen bewohnbar machen konnte – mittels dieses Bergs von Eingaben.“ Die Kamera fährt über den vom Bruder selbst gedrechselten Kerzenständer, das Häkeldeckchen auf dem Wohnzimmertisch, das Glas Grandos Mocca auf dem Küchenregal, die Brotschneidemaschine, sie fährt hinauf zur Neonröhre an der Küchendecke.
Beiträge der Defa-Wochenschau und des DDR-Fernsehens
Diesen Filmen stellt die Prenzlauerberginale Beiträge der Defa-Wochenschau und Berichte des DDR-Fernsehens aus den 70er- und 80er-Jahren mit ihrem geschminkten Blick auf den DDR-Alltag gegenüber.
Aufgrund der hohen Nachfrage wird das Programm am 13. September um 18 und um 20.30 Uhr gezeigt. Anschließend gibt es jeweils ein Publikumsgespräch, das um 18 Uhr mit dem Regisseur und Autor Günter Jordan, der bis 1991 als Regisseur und Autor eigener Filme dem Defa-Studio für Dokumentarfilme angehörte, und der Stadthistorikerin Kathrin Meißner, das zweite mit dem Stadthistoriker Harald Engler. Auch an den nächsten drei Dienstagen laufen Filme über Prenzlauer Berg.
Prenzlauerberginale bis zum 4. Oktober. Das gesamte Programm: www.prenzlauerberginale.berlin/