Drei Filmminuten, die Leben veränderten: „Three Minutes: A Lengthening“

1938 filmte ein jüdischer Pole sein Heimatdorf, ein Jahr später waren fast alle Bewohner tot. Ein Dokumentarfilm begibt sich auf die Spuren des Zeitdokuments. 

Bilder aus unbeschwerten Zeiten. Wenige Monate, nachdem sie im Jahr 1938 aufgenommen wurden, hatten die Nazis viele dieser Menschen ermordet.
Bilder aus unbeschwerten Zeiten. Wenige Monate, nachdem sie im Jahr 1938 aufgenommen wurden, hatten die Nazis viele dieser Menschen ermordet.US Holocaust Memorial Museum

Der 12. August 1938 ist ein schöner Sommertag hier in Nasielsk, im zentralpolnischen Masowien, rund 50 Kilometer nördlich von Warschau. Dass heute so viele Passanten die Hauptstraße und den Marktplatz säumen, hat neben dem Wetter und dem Schabbes am Abend noch einen weiteren Grund.

Besuch aus Amerika ist eingetroffen: Die Eheleute Kurtz besuchen ihre alte Heimat. Sie haben es in New York „zu etwas gebracht“, fahren in einer prächtigen Limousine vor. Im Reisegepäck befindet sich auch eine 16-mm-Kamera, mit der die Bilder ihres triumphalen Einzugs im Städtchen aufgenommen werden. Bilder, die wir heute noch sehen können – Amateuraufnahmen wie unzählige andere.

Mit einem wesentlichen Unterschied: Diese gut drei Minuten dokumentieren einen Moment aus dem Leben einer Gemeinde, die nur ein Jahr später vom deutschen Vernichtungskrieg überrollt wurde. Von den zum Zeitpunkt der Dreharbeiten circa 3000 hier lebenden jüdischen Menschen war nach Kriegsende kaum noch jemand übrig. Alle anderen waren ermordet worden, die meisten in Treblinka. Auf dem brüchigen, 1938 von David Kurtz belichteten Material sind 150 von ihnen noch lebend zu sehen.

Auch 70 Jahre später konnten noch Menschen identifiziert werden

Die Geschichte von der Bergung und Wiedergeburt dieses einzigartigen Dokuments grenzt ans Märchenhafte. 2009 fand Glenn Kurtz, der Enkel des Amateurfilmers, auf dem Dachboden des Familienhauses in Palm Beach eine Filmbüchse mit der Aufschrift: „Our Trip to Holland, Belgium, Poland, Switzerland, France and England“. Im Holocaust Memorial Museum wurde das Material Bild für Bild restauriert und online gestellt. Das Unwahrscheinliche trat ein: Eine Frau erkannte in einer der Sequenzen ihren noch lebenden Großvater. Später sieht sich Maurice Chandler (alias Moszek Tuchendler) am Schneidetisch selbst als Teenager. Inmitten seiner Freunde sprang er damals vor der Kamera des Reisenden aus Amerika begeistert auf und nieder. Dank seiner Erinnerungsarbeit konnten mehr als 70 Jahre später weitere 15 von Kurtz aufgenommene Bewohner von Nasielsk identifiziert werden.

Der niederländischen Regisseurin Bianca Stigter ging es genau darum. Mit ihrer innovativen Arbeit über einen fast verlorenen Film vermochte sie, einigen der Ermordeten ihre Gesichter und Namen zurückzugeben, sie aus abstrakter Opferdimension zurück in die aktuelle Wahrnehmung zu bringen. Sie beließ es nicht bei der Restaurierung und Kommentierung der Aufnahmen.

Mit ihrer kriminalistischen, dabei hoch artifiziellen Bearbeitung des Fundmaterials legt sie immer neue Schichten frei. Sie taucht in die wenigen geretteten Bewegtbilder ein, zerlegt sie, ordnet sie neu, stellt überraschende Zusammenhänge her. Und das Verblüffendste daran ist, dass ihre Analyse den Zuschauern stets genug Raum für eigene Assoziationen lässt. Hier werden keine allwissenden Schlussfolgerungen serviert, sondern Türen geöffnet. Dieser Film ist ebenso schonungslos wie ergreifend, damit auf seltene Weise auch beglückend.

Three Minutes: A Lengthening wird am 27. Februar um 19 Uhr im Jüdischen Museum gezeigt. Anschließend folgt ein Gespräch mit der Regisseurin Bianca Stigter. Ab März wird der Film in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung verfügbar sein.