Gewalt macht krank: Cemile Sahins kurdische Familienerzählung in der Volksbühne

In ihrer Spielfilmreihe „Vier Balladen für meinen Vater“ legt die junge Filmemacherin den Finger in die Wunde eines zu wenig beachteten politischen Konflikts.

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Leyla Bingöl gibt sich optimistisch: Es wird schon wieder werden! Ihre Verwandten und auch die Ärztin blicken hingegen skeptischer drein, von notwendigen Folgeuntersuchungen ist die Rede. Angekommen im schönen Zuhause am Pariser Stadtrand, fallen Schatten über das Gesicht der Frau. Etwas arbeitet in ihr, Traumata steigen auf, Bilder von Razzien und Straßenkämpfen. Türen werden eingetreten, wehrlose Menschen zusammengeschlagen. Die Bilder lassen sich nicht abschütteln. In der nachdenklichen Frau macht sich das Dunkle breit, wie schon ihr Name verheißt: Leyla bedeutet Nacht.

Wir erfahren, dass sie ihren Mann Hasan seit 26 Jahren nicht mehr gesehen hat. Ihre Familie stammt aus Nordkurdistan. In dieser südöstlichen Region der Türkei gewann die linksgerichtete HDP 2015 über 90 Prozent der Stimmen, dennoch macht die Zentralgewalt hier, was sie will. Ausgangssperren gehören zum Alltag, Menschen verschwinden, von rechtsstaatlichen Prinzipien kann keine Rede sein. Leylas Familie verlor durch Erdoğans gigantomanisches GAP-Staudamm-Projekt erst ihre physische, durch die politische und ethnische Repression ihre geistige Heimat. Als Ausweg blieb nur die Flucht in den Westen. Doch längst reichen die langen Schatten aus der Türkei auch bis hierher.

Die Autokratie ergreift auch von den Körpern und Köpfen Besitz

Der Spielfilm-Zyklus „Vier Balladen für meinen Vater“ legt den Finger in die Wunde eines weithin verschwiegenen, dessen ungeachtet aggressiv wuchernden politischen Skandals, der sich auf das Leben von Hunderttausenden Menschen auswirkt. Allegorisch steht Leyla mit ihrer in Paris, Istanbul und Kurdistan verstreuten Familie für die vielen Opfer eines ungehemmten Machtwillens – aber auch für Beharrlichkeit, Solidarität und Widerstand. Es ist das große Verdienst der bislang vor allem als Autorin und Bildende Künstlerin arbeitenden Cemile Sahin (geboren 1990 in Wiesbaden), private und politische Täter-Opfer-Beziehungen zu verflechten und nachvollziehbar zu machen.

Sie stellt die probaten Methoden einer Miniserie, inklusive Cliffhangern, effektiv in den Dienst einer dringend notwendigen, dabei niemals didaktisch wirkenden Aufklärungsarbeit. Wenn etwa Leylas Tochter Dicle nach vier Jahren aus einem türkischen Gefängnis entlassen wird und auf die Naivität ihrer Teenager-Nichte stößt, wird in wenigen Blicken und Dialogzeilen der universelle Wahnsinn jedes totalitären Systems nachvollziehbar. Um die Verwandten und sich selbst nicht zu gefährden, kann auch im engsten Kreis nur noch in Andeutungen und mit Leerstellen gesprochen werden. Um überleben zu können, schiebt sich über das Eigentliche mehr und mehr ein Stellvertreterleben. Die Autokratie schränkt so nicht nur das äußere Leben ein, sondern ergreift auch von den Körpern und Köpfen Besitz; sie macht krank. 

Bihar (Frühling) wird im Rahmen der Reihe „Cinema+Context“ am 8. Januar um 20 Uhr in Anwesenheit von Cemile Sahin im Großen Saal der Volksbühne gezeigt. Eintritt: 10 €