Helene Hegemann: Wie kann jemand Genuss daraus ziehen, jemand anderen zu quälen?
Helene Hegemann hat Ferdinand von Schirach verfilmt. Ein Gespräch über Gewaltdarstellung, Unerzählbares und das Wichtigste, das ein Künstler erforschen kann.

Für die Streaming-Plattform von RTL haben sechs Regisseure und Regisseurinnen Kurzgeschichten aus Ferdinand von Schirachs „Strafe“ verfilmt, Helene Hegemann gehört dazu. In „Subotnik“ erzählt sie von zwei Frauen: einer kurdischen Anwältin, die einen Menschenhändler verteidigt, und von einer rumänischen Frau, die von ihm entführt, zwangsprostituiert und gefoltert wurde.
Frau Hegemann, 2017 haben Sie Ihr Langfilmdebüt „Axolotl Overkill“ inszeniert, das Publikum kennt Sie als Schriftstellerin und Autorenfilmerin. Wieso nun als zweites Projekt eine Ferdinand-von-Schirach-Eventverfilmung für RTL?
Constantin Film haben „Axolotl Overkill“ verliehen, deshalb stand ich mit dem Produzenten Oliver Berben in Kontakt. Er kam auf mich zu und erzählte überschwänglich, dass da etwas „sehr Radikales und sehr Freies“ fürs Fernsehen in Planung sei – was natürlich gut klingt, aber nicht unbedingt glaubhaft. In diesem Fall war es aber tatsächlich so. Die einzige Ansage lautete: Jeder sucht sich eine Geschichte aus. Danach konnten wir ohne Rücksicht auf Verluste machen, was wir wollten, das sind schon singuläre Arbeitsbedingungen. Das klang für mich weitaus angenehmer, als das xte Coming-of-Age-Drama angeboten zu kriegen, mit dem ich de facto nichts zu tun habe.
Die Vorlage zu den sechs Filmen, die nun entstanden sind, war Ferdinand von Schirachs Buch „Strafe“, das zwölf kurze Erzählungen umfasst. Wieso haben Sie sich für „Subotnik“ entschieden?
Mich hat an der Geschichte gereizt, was da wie aufeinandertrifft. Es gibt die junge Anwältin, bei Schirach Türkin, bei uns Kurdin, die sich von ihrer radikal religiösen Familie befreit hat, in der Vorlage mit großen Gesten, Kopftuch in den Mülleimer schmeißen, sowas. Dann gibt es die rumänische Zwangsprostituierte und den russischen Menschenhändler, der von der kurdischen Anwältin verteidigt wird. Ich fand die vermeintliche Willkür der Konstellation ziemlich glaubwürdig und besonders, außerdem gefiel mir das Tarantino-artige Personal. Die Vorlage ist nur fünf Seiten lang, ich hatte also viel Luft.
Was wollten Sie erzählen?
Die Frage, die bei Schirach gestellt wird, ist immer dieselbe: Wie weit geht der Glaube ans Gesetz, wenn man sich von jeglichen Ideologien befreit hat. Und das hat diese Hauptfigur. Sie hat den Glauben an Gott und den Glauben an Moral aus Selbstschutz und emanzipatorischen Gründen aufgegeben, sie unterwirft sich mit derselben Endgültigkeit dem geschriebenen Gesetz, mit der sich andere Leute den zehn Geboten unterwerfen. Da geht es um eine vermeintliche feministische Befreiung, die sich ungünstig mit einem extremen Aufstiegswillen trifft, der sie an einen Punkt führt, an dem sie selbst zur Unterdrückung einer anderen Frau in ihrem Alter beiträgt und durchzudrehen beginnt.

Dieses Dilemma ist ein Beispiel für eine diffuse Fragestellung, die bei Schirach fast immer zentral ist, unabhängig davon, dass ich oft die Haltung, aus der er Geschichten heraus erzählt, nicht teilen kann. Umso besser. Das war das Spannende für mich. Eine Vorlage, für die ich mich interessiert habe und gegen die ich mich gleichzeitig auch auflehnen musste. Und das zu dürfen, hat Spaß gemacht.
Was hat Sie an der Vorlage gestört oder Ihnen gefehlt?
Bei von Schirach gab es die Figur des Übersetzers nicht. Und das Hauptaugenmerk in der Kurzgeschichte lag auch nicht auf der Aussage der Zwangsprostituierten, sondern auf dieser türkischen, unterdrückten Frau, die dann halt leider auch noch mit ihrem Befreiungsmoment auf die Fresse fliegt, um es mal sehr zugespitzt zu formulieren. Wir wollten es aber genau entgegengesetzt erzählen. Das Interessante daran ist: Ich hatte mir explizit vorgenommen, nie einen Film zu machen, der Vergewaltigung oder generell Gewalt an Frauen thematisiert.
Warum nicht?
Weil solche Bilder oft genug reproduziert werden. Natürlich ist es wichtig, diese Geschichten zu erzählen, zu dokumentieren, aber ich bin dafür die Falsche. Weil ich riesige Hemmungen habe, aus Kritik an einer Situation Bilder zu schaffen, die dieses Problem erneut in die Welt setzen. Besser ist es, Alternativgeschichten zu den ewigen Unterdrückungserzählungen zu erfinden. Klingt vielleicht ein bisschen nach Propaganda, aber ich finde das, ja, produktiver oder progressiver.

Es gibt so viele Vergewaltigungsfilme, in denen minutenlang ungefiltert präsentiert wird, dass Männer Frauen körperlich überlegen sind und sie entsprechend brutal fertigmachen können. Unser Plan war hier deshalb, von Gewalt an Frauen zu erzählen, die Schwäche und die Scham aber ausschließlich über die Männer. Deshalb gibt es diesen Übersetzer. Damit die rumänische Frau ihre Geschichte in einer Abgeklärtheit auf Rumänisch erzählen kann, die sie überlegen und unantastbar macht – der Mann, der ihr Freier sein könnte, oder ein netter Teddybär, bricht dann stellvertretend für sie zusammen.
Sie haben eben Tarantino erwähnt. Was halten Sie von seiner Art, mit solchen Themen umzugehen?
Ich würde Tarantino nicht unbedingt als Feministen bezeichnen, was er allerdings beherrscht, ist, die marginalisierten Opfer in seinen Filmen zu Popstars zu machen, anstatt sie durch erzeugtes Mitleid zu schwächen. Und das ist wirklich ein großer Unterschied zu vielem, was als politisch korrekt abgenickt wird. Wo ich manchmal wirklich schreiend rausrennen will, weil ich denke: Wie konnte das passieren?
Zum Beispiel?
Es gibt so viele Beispiele. Meistens sind es die Filme, die irgendwann als politische Meilensteine im Weißen Haus gezeigt werden. Am meisten schockiert hat mich vor ein paar Jahren mal ein Off-Theaterstück, wo als Rassismus-Kritik auf der Bühne 20 Minuten lang Weiße so getan haben, als würden sie Schwarze verprügeln. Dann gehen die Zuschauer raus, ganz ergriffen davon, wie die Missstände der Welt abgebildet wurden. Dabei wurden sie einfach unreflektiert wiederholt. Und das passiert leider oft.
Die Grausamkeit, von der Sie in „Subotnik“ erzählen, ist unvorstellbar. Auch wenn diese kaum explizit gezeigt wird – sind bei Ihnen ein paar Skrupel vor der Thematik und der Umsetzung geblieben?
Als Vorlage hat mich die Geschichte extrem interessiert, allerdings in dem absoluten Wissen, dass ich hier etwas erzählen muss, was man nicht erzählen kann. Man kann nicht spürbar machen, was einem Menschen passiert ist, der jeden Tag gefoltert wurde. Und jemanden, der behauptet, er hätte diesen Ehrgeiz, kann ich nicht ernst nehmen. Das ist schwachsinnig. Darauf haben die Schauspielerin Cosmina Stratan und ich uns sofort geeinigt. Sie war im Casting auch fast die Einzige, die aus der Zeugenaussage keine Nummer gemacht hat. Ihr kamen mal kurz die Tränen, aber sie hat sich vorher nicht im Geringsten überlegt, wie man diese Aussage, die Aneinanderreihung der Taten, nun „gestalten“ könnte.
Stellvertretend für die Zuschauer und mich habe ich dann eben diese Rolle des Übersetzers erfunden. Der zwar versteht, was er da erzählt, von dem Inhalt jedoch, genau wie wir, völlig losgelöst ist. Solche unfassbaren Extreme können nur in kurzen, sehr kurzen Momenten zu jemandem durchdringen, der sie selbst nicht erlebt hat, davon bin ich überzeugt.

Wie haben Sie sich dem Thema Zwangsprostitution angenähert?
Sehr prägend war für mich der Dokumentarfilm „Whore’s Glory“ von Michael Glawogger. Ich habe aber auch sehr viel über Folter gelesen, Berichte von Überlebenden aus KZs, zum Beispiel „Die Tortur“ von Jean Améry. Sexualisierte Gewalt ist damit nicht unmittelbar vergleichbar, eine Vergewaltigung etwas anderes, als aus politischen Gründen einen Fingernagel gezogen zu kriegen, aber trotzdem habe ich versucht, mich auf einem universelleren Level zu bewegen und das nicht als spezifisches Problem von Zwangsprostituierten aus verarmten Ländern zu machen. Die entscheidende Frage für mich war: Wie geht man damit um, wenn einem etwas so Schreckliches, Existenzauslöschendes passiert ist – und wie kommuniziert man, was nicht zu übertragen ist?
Folter und Vergewaltigung klingen auch in Ihrem neuen Erzählband regelmäßig an. Nicht en detail, sondern eher als kurze Einwürfe, die manchmal wie Zwangsgedanken anmuten. Woher rührt das?
Was ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann? Gefoltert werden. Versehentlich sein eigenes Kind umzubringen, ist vielleicht noch schlimmer. Dennoch, brutaler Folter ausgesetzt zu sein löscht alles aus, was einen zum Menschen macht. Ich glaube, aus der Angst vor der eigenen Vernichtung, die den wenigsten an dem Punkt, an dem sie eintritt, bewusst ist, resultiert ein großer Prozentsatz von allem Abgründigen. Für mich ist das eines der wenigen lebenslang gültigen Forschungsprojekte für Kreative. Wie kann es passieren, dass jemand Genuss daraus zieht, jemand anderen zu quälen? Und an welchem Punkt wird deine Existenz so sehr in Frage gestellt, dass ein kleines Stück von dir stirbt? Das ist vielleicht das Wichtigste, was man als Künstler erforschen kann.
Was halten Sie von Strafe als pädagogischem und juristischem Mittel?
Darüber habe ich mir keine allzu intensiven Gedanken gemacht. Ich denke da sofort an Hundeerziehung, da geht es nicht ohne. Was Gefängnisstrafen angeht: Da würde ich eine Lanze für skandinavische Länder brechen, Schweden und Dänemark zum Beispiel, wo die Haftbedingungen viel besser sind und der Fokus auf der Resozialisierung anstatt auf der Strafe liegt.
Bei von Schirach ging es in der Vergangenheit oft sehr moralisch zu. Bei der ARD-Verfilmung „Terror“ sollte das Publikum 2016 mitentscheiden, ob es legitim sei, 164 Menschen zu töten, um 70.000 zu retten.
Das fand ich furchtbar. Mir hat es in diesem Fall aber Spaß gemacht, weil ich schon vorher wusste, dass die Fragestellung so komplex ist, dass darauf niemand eine Antwort geben kann. Man darf nicht antworten, man muss diesen Widerspruch zelebrieren.
Nach Ihrer ersten Fernseherfahrung: In Zukunft wieder Kino?
Ich muss zugeben, dass ich die wirklich extrem komfortablen Arbeitsbedingungen bei diesem Projekt sehr zu schätzen gewusst habe. Und das in einem Moment, in dem alle den Tod des Kinos beschwören. An den glaube ich zwar nicht, aber es war tatsächlich schön, nicht fünf Jahre auf die Finanzierung des eigenen Projekts warten zu müssen, in das einem dann 40 Leute reinreden und am Ende macht man das Ding dann einfach nur, um es zu machen, obwohl es nur noch ein Haufen voller Kompromisse ist. Trotzdem werde ich nicht müde zu betonen, wie absurd es sich anfühlt, mit etwas so Subversivem anzutreten und dann bei RTL zu landen.
Wie steht es mit den Streaming-Firmen als potenziellen Arbeitgebern?
Was ich von solchen Produktionen höre, klingt für mich mitunter absurd. Da saugen sich Leute eine Serie aus den Fingern und dann kommt irgendein namenloser Streaming-Redakteur reingerauscht, der mitteilt, dass laut Algorithmus die Zuschauer abschalten, wenn die Hauptfigur in der zweiten Szene ein rotes Kleid trägt. Und dieses rote Kleid wird dann ernsthaft gestrichen! Das muss doch jemandem auffallen, dass das nicht lange gutgehen kann. Aber scheinbar war da noch niemand gleichzeitig mächtig und aufmerksam genug. Firmen, die so produzieren, tragen zu ihrer eigenen Abschaffung bei, davon bin ich überzeugt. Das kündigt sich ja bei Netflix jetzt auch in Ansätzen an.
Man kann künstlerische Inhalte nicht verwalten wie einen Supermarkt oder Online-Modeladen. Du kannst einen BWLer nicht in die Führungsebene von einem Vertrieb für Kreatives setzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert. Und wenn es funktioniert, dann nur mit üblen Betrugsmechanismen gegenüber dem menschlichen Gehirn.
Wie das rote Kleid?
Ja, oder einfach die Tatsache, dass 15 identische Serien mit leicht unterschiedlichen stilistischen Ausrichtungen gedreht werden, damit für jeden was dabei ist.
Sind die BWLer bei den Streamern schlimmer als Redakteure bei den Öffentlich-Rechtlichen?
Mit denen gibt es wenigstens eine Auseinandersetzung jenseits von Verkaufsargumenten. Es ist alles nicht so toll gerade. War es vielleicht auch noch nie.
Bei Netflix würde vor „Subotnik“ wahrscheinlich eine Trigger-Warnung stehen. Was halten Sie von dem Konzept?
Habe ich noch nie drüber nachgedacht. Spontan wollte ich fast ,gar nichts!‘ sagen, aber das stimmt überhaupt nicht.
Die Anthologie „Strafe“ ist ab dem 28. Juni bei RTL+ abrufbar. Verfilmt wurden die sechs Geschichten „Der Dorn“ (Hüseyin Tabak), „Der Taucher“ (Oliver Hirschbiegel), „Das Seehaus“ (Patrick Vollrath), „Die Schöffin“ (Mia Spengler), „Ein hellblauer Tag“ (David Wnendt) und „Subotnik“ (Helene Hegemann).