Langzeitdoku „Kalle Kosmonaut“: Eine Jugend in Hellersdorf
Die Filmemacher Tine Kugler und Günther Kurth haben Kalle zehn Jahre seines Lebens begleitet. Die schiefe Bahn, die in den Knast führt, scheint vorherbestimmt.

Zehn Jahre sind eine Ewigkeit für einen zehnjährigen Jungen. Und sie sind eine lange Zeit für einen anderthalbstündigen Dokumentarfilm. Die Filmemacher Tine Kugler und Günther Kurth haben Pascal aus Berlin-Hellersdorf für ihren Langzeit-Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“ von seinem zehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr begleitet. Auch wenn die Lücken nicht kaschiert werden und die Bilder und Interviews natürlich nur Schlaglichter in den Alltag des Jungen setzen, wird allein durch die Auswahl und den Zusammenschnitt des Materials dem Leben ein epischer Bogen gegeben – und Kausalität suggeriert. Hinzu kommen angsttraumschöne animierte Sequenzen von Alireza Darvish, die besagte Lücken in ihrer Fiktionalität markieren. Es ist, als würde Kalle selbst zu einer Figur, deren Weg vorherbestimmt war, als würde er in eine Geschichte einrasten und in ein Schicksal gezwungen werden.
Klischees nehmen ihn in die Zange und verfolgen ihn bis hinein in seine blutigen Träume, die ihn als Zwanzigjährigen quälen. Er wehrt sich tapfer und gibt den Kampf nicht auf. Dieser Film ist eine sensible, vorurteilsbefreite, zugewandte Sozialstudie, aber er ist auch mehr als das, denn er führt einem am Beispiel von Kalle vor Augen, wie man selbst eingespannt ist in die Geschichte des eigenen Lebens, wie begrenzt der freie Wille ist – und wie ungerecht verteilt die sozialen Startbedingungen sind.

Wir lernen Kalle als ein Schlüsselkind kennen, dessen alleinerziehende Mutter das Geld für die Miete verdienen muss – und für Zigaretten und Alkohol. Sie macht sich Sorgen, weniger um Kalle selbst als darüber, dass er Scheiße bauen könnte. Kalle macht sich keine sichtbaren Sorgen, sondern Frühstück, er bringt den Müll raus, trainiert für eine Fußballkarriere, schaukelt allein im Dunkeln auf dem Spielplatz, durchsucht weggeworfene Kleider. Blaue, wache Augen hat er, Sommersprossen und ein überaus einnehmendes Stirnrunzeln, wenn er sein Leben reflektiert: „Ich will was erreichen. Nicht betteln gehen, keine Klos putzen. Ich will Arbeit haben.“
Sein Vater habe ihn als Ghetto-Kind bezeichnet. Was das sei, wird er gefragt: „Ein Kind, das nur Scheiße baut, Alkohol trinkt, Drogen nimmt, einfach nicht klarkommt.“ Da ist wieder diese Redewendung: Scheiße bauen. 2009 hat Kalle seinen Vater zum letzten Mal gesehen; der Mann hat sich nach dieser letzten Begegnung nie wieder bei seinem Sohn gemeldet und ist doch in niederdrückender Penetranz als Leerstelle präsent.
Wie also geht es weiter? Kalle greift früh zu Alkohol und Drogen. Die Kontakte zu anderen sozialen Wirklichkeiten bleiben sporadisch. Er hängt viel mit seinen Kumpels ab, verliebt sich, schreibt schöne Briefe, probiert Parcours aus, trainiert, rappt. Seine Begeisterung ist toll, wenn er Feuer für eine Sache fängt, auch weil er hofft, eine Tür aus seiner Lebenswelt gefunden zu haben. Umso niederschmetternder, wenn dann die Falle zuschnappt.
Kalle steht unter Stoff, als er meint, jemand hätte ihn an der Straßenbahnhaltestelle angerempelt. Es gibt Streit, Kalle verletzt den Mann, einen Familienvater, schwer. Es ist von einem Dönermesser die Rede. Kalle muss ins Gefängnis, zwei Jahre und sieben Monate. Als er wieder rauskommt, hat er einen Haufen Schulden; Schmerzensgeld und Schadensersatz für Sachbeschädigung während der Haft. Die Phasen, in denen er mutvoll und tapfer sein Leben in die Hand nehmen will, in denen er seine Liebe zu seiner Freundin und seine Vaterwerdung feiert, wechseln ab mit denen der Resignation. Es ist stark, wie er zu seinen Fehlern und Schwächen steht – und wie er sie in seiner Musik zum Ausdruck zu bringen versucht.
Der Blick der Filmemacher ist nicht objektiv, das geht nicht. Sie sind zu bewundern für ihre Zurückhaltung, auch dafür, dass sie sich nicht in Verantwortung für Kalle begeben. Ob es Hoffnung für ihn gibt, bleibt offen. Man hätte es sicher so oder so schneiden können.
Kalle Kosmonaut. Ein Langzeit-Dokumentarfilm von Tine Kugler und Günther Kurth, Kamera: Günther Kurth, Animationen: Alireza Darvish, 99 Minuten. FSK 12. Jetzt im Kino