Arbeitskampf, Klimakleber und Selenskyj: Die Berlinale-Eröffnung macht Hoffnung

Endlich kann man wieder zusammen stehen – auch wenn das mit Künstlern und Politikern oft anstrengend ist. Warum man diese Berlinale nicht verpassen sollte.

Hier noch ohne klebende Aktivisten: Die Jurypräsidentin Kristen Stewart auf dem roten Teppich.
Hier noch ohne klebende Aktivisten: Die Jurypräsidentin Kristen Stewart auf dem roten Teppich.AFP

Ein Trillerpfeifenkonzert begrüßt die Gäste auf dem Weg zur Eröffnungsgala der Berlinale. „Gute Filme – schlechte Löhne“ oder „Berlins cutest cinemas need to pay fair wages“ steht auf den Plakaten, gehalten von Mitarbeitern der Yorck-Kinogruppe, die zusammen mit der Gewerkschaft Verdi am Donnerstagabend vor dem Marlene-Dietrich-Platz demonstrieren. Seit Monaten verhandeln sie, fordern einen Mindestlohn von 13 Euro und die Entfristungen der Arbeitsverträge, bislang ohne Erfolg. Auch die Mitarbeiter der UCI-Kinos kämpfen gegenwärtig um bessere Arbeitsbedingungen.

Viel wurde im Vorfeld des größten Filmfestivals der Welt, gemessen an den Besucherzahlen, über die Bedeutung des Kulturortes Kino gesagt und geschrieben; die Freude, dass die Berlinale-Säle nach zwei Pandemiejahren endlich wieder voll belegt werden können, ist riesig. Bei aller Euphorie den kritischen Blick weiterhin scharfzustellen, das pfeifen die Demonstrierenden den geladenen Galagästen ein. Später werden sich zu diesem Zweck auch noch ein paar Aktivisten der Letzten Generation auf dem nachhaltig produzierten roten Teppich festkleben.

Dreiste Schauspieler, tolle Schauspieler

Durch eine Schleuse geht es weiter in Richtung Berlinale-Palast, wie ein Schwarm Guppys bewegt sich das Fußvolk hinter Plexiglas, während die Menschen am Teppich auf die großen Fische warten. Die meisten haben Bilder von der Jurypräsidentin Kristen Stewart oder der Schauspielerin Anne Hathaway in der Hand, aber auch deutsche Stars wie Veronica Ferres, Iris Berben, Benno Fürmann und Kida Ramadan provozieren so manchen Kreischer.

„Cocktail“ hieß die Kleiderordnung für den Abend. Die Interpretationen reichen vom Turnschuh bis zum Ballkleid mit Schleppe, Männer latschen drauf, auch das ist Berlin. Eine Viertelstunde vor dem Einlass in den Saal heißt es Ausschankstopp, einem bekannten Schauspieler passt das nicht. Er zieht die Sektflasche aus dem Kübel, lässt den Korken knallen und verteilt Gläser an seine Freunde, während der Berlinale-Mitarbeiter zu Boden schaut. Hat man das alles wirklich vermisst?

Am Ende des Abends ist klar: Man hat. Zwar wurden noch so manche Nerven strapaziert, etwa als die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey den Erfolg des „Film- und Serienstandorts Berlin“ mit dem neunfach oscarnominierten Film „Im Westen nichts Neues“ belegen wollte – einer Netflix-Produktion.

Und doch entfaltete diese Eröffnung einen emotionalen Sog, dem man sich kaum entziehen konnte – spätestens als der Schauspieler Sean Penn auf der Bühne mit zitternder Stimme von der Entstehungsgeschichte zu seinem Dokumentarfilm „Superpower“ erzählte, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feiert. Zusammen mit seinem Co-Regisseur Aaron Kaufman hatte er Anfang vergangenen Jahres einen Film über einen Schauspieler drehen wollen, der Präsident wurde. Als sie Wolodymyr Selenskyj zum ersten Mal in Kiew trafen, fielen Putins erste Bomben.

Der Moderator Jo Schück mit dem Schauspieler und Filmregisseur Sean Penn
Der Moderator Jo Schück mit dem Schauspieler und Filmregisseur Sean Penndpa

Selenskyj selbst sprach zugeschaltet von der besonderen Verbindung zwischen Berlin und der Ukraine. „Die Mauer zwischen der freien Welt und dem Totalitarismus verlief einst in dieser Stadt. Heute will Putin wieder eine solche Mauer bauen – in der Ukraine.“ Ob in einer solchen Zeit Politik und Kunst zu trennen seien, fragte er, wenn die russische Politik Aggression, Zerstörung und Tod bedeute? Es war eine rhetorische Frage.

„Wo einst Abgrenzung und Leere herrschte, schlägt nun das Herz der Berlinale.“

„Kino kann Mauern und Grenzen überwinden, reale und ideologische“, beschwor Selenskyj und erinnerte an „Der Himmel über Berlin“, in dem Wim Wenders zwei Engel frei über die geteilte Hauptstadt fliegen ließ, zwei Jahre, bevor die Mauer dann tatsächlich fiel. „Wenders hätte wohl nicht für möglich gehalten, dass hier am Potsdamer Platz eines Tages wieder ein Filmfestival in einem vereinten Deutschland stattfinden würde. Wo einst Abgrenzung und Leere herrschten, schlägt nun das Herz der Berlinale.“

„Die Berlinale ist ein politisches Festival, weil das Publikum politisch ist“, sagte der künstlerische Leiter Carlo Chatrian im Interview mit dieser Zeitung, und diese These bewahrheitete sich an diesem Abend eindrücklich, sowohl im Berlinale-Palast als auch davor. Während des Festivals wird es zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen und Vorführungen von Filmen aus den und über die Krisenregionen unserer Zeit geben. Chatrians Definition für politische Filme allerdings ist breiter aufgestellt: „Für mich ist Kino politisch, wenn es die Zuschauer und Zuschauerinnen auffordert, ihre Haltung zur Gesellschaft zu definieren“, so der künstlerische Leiter. Dass das auch auf beschwingte Art funktionieren kann, beweist er mit seiner Auswahl des Eröffnungsfilms, „She Came to Me“ von Rebecca Miller, einem Plädoyer für den Mut zum Neuanfang.

Auch wenn das Festival gerade erst begonnen hat, lässt sich darin ein Leitmotiv erahnen. Noch nie gab es eine so junge Jurypräsidentin, noch nie einen so hohen Anteil an Debütfilmen im Programm, fast ein Fünftel der Filme sind Erstlingswerke. Die Berlinale schaut in die Zukunft – ohne dabei den Blick für die Gegenwart zu verlieren.