Nina Hoss: „Kunst muss kontrovers bleiben. Sonst brauchen wir sie nicht mehr“
Die Schauspielerin im Gespräch über das großartigste Erlebnis in ihrer Karriere, die Arbeit mit Cate Blanchett und die Frage, was „Tár“ mit Berlin zu tun hat.

In Todd Fields Drama „Tár“, das aktuell für sechs Oscars nominiert ist, spielt Nina Hoss die erste Geige – und die Frau an der Seite von Cate Blanchett. Wir trafen die Schauspielerin während der Berlinale, wo sie der deutschen Premiere des Films entgegenfieberte.
Frau Hoss, von allen Filmen, in denen Sie bisher gespielt haben, hat keiner mehr internationale Aufmerksamkeit bekommen als „Tár“. Wie fühlt sich das an?
Es ist sehr aufregend. Zum Glück habe ich dabei so großzügige Menschen wie Todd Field und Cate Blanchett an meiner Seite, die es mir irgendwie leicht machen, mich in all diesem Wirbel zurechtzufinden. Mich sogar darin zu Hause zu fühlen, auf eine merkwürdige Art. Das macht alles einfacher.
Finden Sie es schade, dass der Film, der ja in Berlin spielt, nicht auf der Berlinale, sondern in Venedig seine Weltpremiere hatte?
Ich finde es so, wie es jetzt lief, ehrlich gesagt phänomenal. Dass man am Ende der Reise hier ankommt, wo der Film auch hingehört. Ich konnte ihn so jedenfalls auch gut loslassen. Auch, weil man nicht mehr in einem Wettbewerb um ihn bangen muss. Das fühlt sich gut und richtig an.
Haben Sie Ihre Heimatstadt in dem Film wiedererkannt?
Absolut. In dem Lebensgefühl, im Kunstverständnis, in den Wohnungen, in diesen großen Gegensätzen, wie die Menschen hier leben. Auch der Konflikt zwischen der Pflicht, Dinge ordentlich zu organisieren, zum Beispiel eine Institution zu leiten, und gleichzeitig nach einem kreativen Freigeist zu streben, kommt mir aus der Stadt sehr bekannt vor.
Der Drehort der Wohnung, in der Lydia Tár und ihre Ehefrau, die Sie spielen, zusammen leben, war der Boros-Bunker in der Reinhardtstraße. Könnten Sie so wohnen?
Ja! Ich kann es nicht anders sagen. Es war einfach toll. Ich war tief beeindruckt von der Wohnung, weil es der Familie Boros, bei all der Grandezza, die dieser Ort nun einmal hat, gelungen ist, ihn so geschmackvoll einzurichten, dass man das irgendwann vergisst. Dass man sich einfach wohlfühlt. Das muss man erst mal hinkriegen.
Im Film spielt Ihre Figur die erste Geige bei den Berliner Philharmonikern. Wie war das für Sie, am Set zwischen all den Profis zu sitzen?
Es war vielleicht das großartigste Erlebnis, das ich bisher in meinem Beruf hatte. Und darauf war ich nicht vorbereitet. Mir war nicht klar, was das mit mir machen würde. Man spielt ja auch mal eine Ärztin, lernt Reiten oder weiß der Kuckuck. Aber der Moment, in diesem Orchester zu sitzen, auf dem Stuhl der ersten Geige, wo alle dich angucken, auch um zu sehen, ob ich es denn wirklich draufhabe – das hat mich extrem nervös gemacht und gleichzeitig auch aufgeputscht. Ich werde diesen Moment nie vergessen: Cate steht am Pult, ich glaube, sie war auch aufgeregt, hebt die Hand – und dann wallt dieser Klang auf. Da wusste ich nicht wohin mit mir, so schön war es. Ein unfassbares, umwerfendes Gefühl. Ich werde es nie vergessen.
Hat der Film Ihr Verhältnis zu klassischer Musik verändert?
Ich habe auf jeden Fall viel gelernt. Irgendwann habe ich auf einem Flug von Berlin nach L.A. die 5. Sinfonie von Mahler gehört, um mich noch mal auf Gespräche über den Film vorzubereiten, und dabei gefühlt alle emotionalen Stadien durchlaufen, die es so gibt. Ich glaube, das schafft nur klassische Musik. Da steckt einfach alles drin. Das ganze Spektrum unserer Gefühle, alles, woran wir Menschen uns abarbeiten. Worunter wir leiden, wonach wir uns sehnen, die Leichtigkeit, das Spiel. Wie viel mir das bedeutet, habe ich durch den Film wiederentdeckt.
Wie war die Zusammenarbeit mit Cate Blanchett?
Ich habe sie als Schauspielerin schon immer bewundert. Für die Rollen, die sie wählt, für das, was sie sich auszusetzen bereit ist. Weil sie sich ins kalte Wasser schmeißt und zum Beispiel einfach mal Bob Dylan spielt. Wir kommen beide vom Theater, haben teilweise die gleichen Rollen gespielt. Als wir uns dann kennenlernten, hatte ich gleich das Gefühl, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Und wir mochten uns sofort, es gab eine große Offenheit und Neugierde aufeinander. Bei aller Raffinesse und Exzellenz in ihrer Arbeit ist sie auch ein ganz toller Mensch, lustig und clever. Es macht einfach Freude, sie um sich zu haben.

Kann man nach so einer Erfahrung überhaupt wieder zum deutschen Film zurückkehren?
Natürlich! Das Wechselspiel macht’s doch.
Auf dem Papier könnte man Ihre Figur, die Ehefrau von Lydia Tár, als klassische Opferrolle lesen. Zuerst die abhängige Geliebte, dann die betrogene Ehefrau. Im Film wirkt das aber ganz anders. Wie sind Sie an die Rolle herangegangen?
Am Anfang lag der Fokus tatsächlich eher auf ihr als der Betrogenen. Ich habe mich in meiner Vorbereitung dann mit Alma Mahler beschäftigt, das Buch „Witwe im Wahn“ über sie gelesen. Und mich dann gefragt: Was wollen denn Menschen eigentlich, die mit solchen Genies zusammen sind? Und im Fall von meiner Figur will sie sich durch ihre Frau befreien, zum Beispiel von ihrer dominanten Mutter, und genießt gleichzeitig die Privilegien, die diese Ehe mit sich bringt. Dann muss man über das System nachdenken. Was sind Menschen bereit zu tun, um in einer Machtposition zu bleiben? Wann guckt man weg, welche Fragen stellt man lieber nicht? Und wie manipuliert man selbst auch mit? In diesen Fragen habe ich sehr viel für mich und die Rolle entdeckt.
Nach ihrem Studium engagierte Thomas Langhoff Hoss für das Deutsche Theater, zusätzlich spielte sie am Berliner Ensemble.
Ab 2002 drehte sie regelmäßig mit dem Regisseur Christian Petzold, für ihre Rolle in „Yella“ wurde sie 2007 bei der Berlinale als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
Hoss hat Adolf-Grimme-Preise, den Deutschen Filmpreis und ein Bundesverdienstkreuz erhalten. Seit 2020 ist sie Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die die Oscars verleiht. In diesem Jahr kann sie für „Tár“ abstimmen.
Ein zentrales Thema im Film ist die sogenannte Cancel Culture. Wie ist Ihr Verhältnis dazu?
Für mich ist das nur eins von vielen Themen im Film; ich finde, man muss aufpassen, dass man ihn mit diesem Label nicht zu klein macht. Es geht zum Beispiel auch um kreative Prozesse. Und um die Frage, wie sich Strukturen aufbrechen lassen, die diese Prozesse manchmal verhindern.
Sollte man Ausnahmekünstlern besondere Strukturen zugestehen?
Kunst muss die Möglichkeit haben, provokant zu sein. Dafür sind wir Künstler da. Wir müssen Gedanken provozieren und immer wieder deutlich machen, dass der Mensch aus vielen Dingen besteht und eben nicht nur aus Gutem. Um zu verstehen, dass diese Annahme verrückt ist, muss man sich ja nur kurz umgucken. Ich finde es wichtig, sich dem zu stellen. Bei mir hört es absolut auf, wenn jemandem in dem Prozess wehgetan wird. Das ist überhaupt keine Frage. Aber dass man über Grenzen hinausgeht, ist absolut notwendig. Das heißt nicht, dass man sich körperlich versehrt, aber zumindest, dass man das Risiko eingeht, auch mal etwas ganz falsch zu machen. Man möchte doch immer etwas herausfinden. Ich zum Beispiel möchte unbedingt herausfinden, warum wir so kompliziert sind. Warum wir diese schrägen Sehnsüchte haben und warum man so oft genau das macht, was einem nicht guttut, obwohl man das schon vorher genau weiß. Was ist das in uns? Von dieser Vorstellung, sich oder anderen zu sagen, „Das darf nicht sein!“, sollte man sich verabschieden. Man muss über alles sprechen, keine Frage. Es stört mich nur, wenn so viele Räume schon vorher zugemacht werden. Wir sollten stattdessen mehr Türen öffnen. Die Kunst muss kontrovers bleiben. Sonst brauchen wir sie nicht mehr.
Es gibt im Film eine Szene, in der Tár mit einem Studenten spricht, der sagt, dass er Bachs Musik nicht genießen kann, weil er dessen Privatleben für moralisch verwerflich hält. Können Sie solche Gefühle nachvollziehen?
Ich sehe das ähnlich wie Tár. Man sollte nicht immer so schnell sein Ego in den Mittelpunkt stellen und andere Menschen vorverurteilen oder sogar abschreiben, aus einem narzisstischen und merkwürdig beleidigten Moment heraus. Was weiß man selbst schon von den Umständen, unter denen andere Menschen gelebt haben? Die Frage, ob man Künstler und Kunst generell trennen kann, ist zu komplex für dieses Interview. Ich kann nur generell für mich sagen: Man sollte keine vorschnellen Urteile fällen und damit dann nicht mehr zulassen, sich von etwas berühren zu lassen. Und vielleicht Wahrheiten über den Menschen und darüber hinaus zu entdecken.
Danke für das Gespräch.
Tár läuft ab dem 2. März im Kino
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