Oscars 2023: Die Kämpfe unserer Zeit
Sieben Oscars für „Everything Everywhere All at Once“, vier für „Im Westen nichts Neues“: Warum die Academy Awards Hoffnung für die Zukunft des Kinos geben.

Das Krisenteam blieb arbeitslos. Bei der Academy of Motion Picture Arts and Sciences hatte man ein solches eingerichtet, um bei der diesjährigen Oscarverleihung Eklats zu vermeiden. Den Anlass für das Projekt bot im vergangenen Jahr bekanntlich Will Smith, der seinem Kollegen Chris Rock nach einem Witz über die Glatze von Smiths Ehefrau Jada Pinkett Smith auf der Bühne eine Ohrfeige verpasste, deren Knall um die Welt schallte. Wie genau dieses Krisenteam zusammengestellt war, mit welcher Ausrüstung und Ausbildung es sich im Saal aufhielt, wurde nicht bekannt. Es habe Zugriff auf einen Notknopf, munkelte man, das löste natürlich Kopfkino aus. Doch darum sollte es am Sonntagabend in Los Angeles nicht gehen, sondern um das echte Kino, als Kulturort und Institution.
Es kann nicht gut darum stehen, dachte man unweigerlich, als der Moderator Jimmy Kimmel zu Beginn der Show verkündete, dass die zehn erfolgreichsten Filme an den Kinokassen des vergangenen Jahres ausnahmslos Fortsetzungen oder Teile eines Franchises waren. Umso mehr überraschte, dass zwei davon, „Avatar: The Way of Water“ und „Top Gun: Maverick“ auch die Chance hatten, an diesem Abend zum besten Film des Jahres erklärt zu werden.
Die Academy breitet ihre Arme aus. Nicht nur für mehr Mainstream, sondern auch für mehr internationale Filme, was sowohl mit den global aufgestellten Streamingdiensten als auch der stetig wachsenden Mitgliederzahl zusammenhängt. Mittlerweile stimmen rund 10.000 Filmschaffende aus 80 Ländern ab. Dass sich daraus eventuell Innovationsbedarf ergibt, zeigte die diesjährige Nominierungsliste in der Kategorie „Bester internationaler Film“ – zwei der Titel waren auch für den Hauptpreis „Bester Film“ nominiert: Ruben Östlunds Kapitalismussatire „Triangle of Sadness“, der bereits die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, und die Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ des in Berlin lebenden Regisseurs Edward Berger. Für insgesamt neun Preise war die eindrücklich verstörende Remarque-Verfilmung nominiert und gewann letztendlich vier – für die beste Kamera, das beste Szenenbild, die beste Filmmusik und als bester internationaler Film.

Selenskyj wurde eine Ansprache verwehrt
Während die zahlreichen Nominierungen des Antikriegsfilms sicher auch auf ein Bewusstsein für dessen traurige Aktualität hinweist, blieb die Preisverleihung selbst eher unpolitisch. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde eine digitale Ansprache verwehrt, für die Kampfjets von „Top Gun: Maverick“ gab es Applaus und die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Malala Yousafzai wurde von Jimmy Kimmel scherzhaft nach Harry Styles gefragt. Die meisten Preisträger konzentrierten sich bei ihren Dankesreden auf ihre Familien, insbesondere die Mütter. Auch daraus sprachen allerdings mitunter aktuelle Debatten, etwa als bei dem 35-jährigen Regisseur Daniel Scheinert Tränen der Zuneigung für seine Mutter flossen, die ihm nie verboten habe, als Kind auch mal in Frauenklamotten herumzulaufen: „Das ist übrigens für niemanden eine Bedrohung!“ fügte er noch hinzu, bevor er mit seinem Drehbuch-Oscar von der Bühne ging. Der für die beste Regie sollte noch folgen.
„Im Westen nichts Neues“ hätte durchaus noch mehr Preise gewinnen dürfen, doch auch der Triumph von Scheinert und seinem kreativen Partner Daniel Kwan, die mit ihrem Fantasy-Actionfilm „Everything Everywhere All at Once“ sieben Oscars einheimsten, trug entscheidend dazu bei, dass man nach der dreieinhalbstündigen Veranstaltung, aufgebaut im nervenaufreibenden Takt von zwölf Minuten Show, gefolgt von fünf Minuten Werbung und wieder von vorn, etwas zuversichtlicher in die Zukunft des Kinos und der Academy blickte als zu Beginn der Veranstaltung. Denn dominiert hat die Verleihung ein Film, der mit visuellen und intellektuellen Ideen fast in Überfülle aufwartet, der mit viel Respekt und großer Begeisterung eine Geschichte aus der Arbeiterklasse erzählt, und der ursprünglich mit nur zehn Kopien in den amerikanischen Kinos anlief. Ein Film, der Frauen ins Zentrum stellt, zwei davon jenseits der Sechzig, gespielt von Jamie Lee Curtis und Michelle Yeoh, die beide für ihre Rolle einen Oscar bekommen haben. Wobei man der Ehrlichkeit halber sagen muss, dass Yeohs Figur ursprünglich als Mann angelegt war und von Jackie Chan verkörpert werden sollte. Sie spielt eine chinesische Einwanderin, die einen Waschsalon betreibt und nach Ärger mit der Steuerbehörde plötzlich zwischen zahlreichen Paralleluniversen hin und her springt.

„Danke an die Akademie, hier wird Geschichte geschrieben“, sagte Yeoh in ihrer Dankesrede – der in Malaysia geborenen Schauspielerin wurde als erster Asiatin der Preis für eine Hauptrolle verliehen. „Ladys, lasst euch von niemandem sagen, dass eure besten Zeiten hinter euch liegen“, fügte sie noch hinzu.
Für solche Momente schaut man die Oscars. Freilich muss man dazu keine Esel auf der Bühne oder eine Stunde Werbung ertragen – einzelne Clips in den sozialen Medien genügen. Doch weil die ja irgendwo herkommen müssen, ist es durchaus zu begrüßen, dass es die Show noch gibt, auch wenn die Einschaltquoten in den vergangenen zehn Jahren von 40 auf 15 Millionen gefallen sind. Denn die öffentlichkeitswirksam vergebenen Preise setzen größtenteils einen Trend der vergangenen Jahre fort, den das Kino als Signal dringend braucht: Sie weisen in die Zukunft, anstatt sich in Altbewährtem zu suhlen. Womöglich sogar für den deutschen Film.