Steven Spielberg „Die Fabelmans“: Jungbleiben ist nichts für Feiglinge
In dem Filmepos „Die Fabelmans“ bricht Steven Spielberg mit Hollywoods größtem Tabu und richtet den Blick auf sich selbst.

Als Steven Spielberg 16 war, trug er seinen Traum vom Filmemachen zu Grabe. David Leans „Lawrence von Arabien“ hatte in der gemächlichen Schlafstadt Scottsdale, Arizona, Station gemacht und den aufstrebenden Super-8-Filmer in Ehrfurcht zurückgelassen. „Ich war noch nie in so einem richtig teuren Kino gewesen mit 70-mm-Projektion“, erinnert er sich im HBO-Dokumentarfilm „Spielberg“. „Da war nun dieses Epos, über das jeder sprach, mit diesen gewaltigen Panoramen, aber in der Mitte war es eine Charakterstudie über die Frage: ‚Wer bin ich?‘ So etwas hatte ich noch nie gesehen. Jetzt wollte ich kein Regisseur mehr werden, die Messlatte war einfach zu hoch.“
Dann aber trug er weiteres Taschengeld ins Kino, Woche für Woche. „Mir wurde klar, es gab kein Zurück. Da wollte ich hin, oder ich würde sterben, während ich es versuchte.“ Bei der Berlinale war er in der vorletzten Woche ein bezaubernder Ehrengast, der jedem das Gefühl gab, dass der Goldene Bär nicht nur eine Fußnote in seiner Karriere sei. Fraglos ein Höhepunkt in der Karriere des 76-Jährigen ist sein jüngster Film, „The Fabelmans“.
Während man sich derzeit vor nostalgischen Abgesängen auf das Zelluloid-Medium kaum retten kann (zuletzt David Chazelles „Babylon – Rausch der Ekstase“), weckt Spielbergs fiktionalisierte Autobiografie Glücksgefühle. Kein Anflug von Pessimismus, lieber möchte man gleich eine Kamera in die Hand nehmen und das Kino retten. Vorausgesetzt, es drehen sich noch echte Filmspulen darin – eine Technik, der er bis heute die Treue hält. Wie weit seine Umarmung dieser Kunstform reicht, verrät schon David Lynchs Name auf der Besetzungsliste. Ausgerechnet dem Doyen der US-Filmavantgarde gehören die letzten Worte; zu Lynchs Überraschung besetzte ihn Spielberg in der Rolle des Western-Pioniers John Ford.
Das Geheimnis der Horizontlinie
Oft hat Spielberg diese nun verfilmte Anekdote erzählt über die unverhoffte Fünf-Minuten-Audienz bei dem zu seiner Zeit berühmtesten aller Filmregisseure. „Was wissen Sie denn von Kunst?“, knarzt Ford/Lynch mit strengem Blick und lässt sich die Gemälde in seinem Büro beschreiben. Spielberg, der auf den Westernszenen seinerzeit nur Indianer und Kavalleriesoldaten ausmachte, vergaß die harsche Lektion nie, die ihm Ford erteilte: „Erst wenn Sie darauf achten, wo die Horizontlinie in einem Bild verläuft und warum sie vielleicht besser nicht in der Mitte sein sollte, werden sie einmal so etwas werden wie ein Filmemacher.“
Spielbergs Aufstieg vollzog sich im wirklichen Leben schon bald. Mit 21 tauschte er sein College-Studium gegen einen Fernsehvertrag und inszenierte bereits an seinem ersten Arbeitstag Alt-Star Joan Crawford. Zu einer Zeit, als das Durchschnittsalter in der Branche bei weit über 50 lag, bedurfte es einer Ansprache der Diva, bis die Crew überhaupt Anweisungen des Grünschnabels annahm. Seine Freunde in Los Angeles, George Lucas, Brian de Palma, Francis Ford Coppola und Martin Scorsese, bekamen nicht viel von ihm zu Gesicht.
Hinter dem Arbeitswahn vermutete dieser Inner Circle des New Hollywood auch etwas Angepasstes – bis 1971 der surreale Straßenthriller „Duell“ auf dem Bildschirm erschien. Der Einstünder, den Spielberg pflichtgemäß ablieferte, ist heute längst vergessen. Was überlebt hat, ist der wohl erste Director’s Cut der Filmgeschichte: Ein später Stummfilm in Kinolänge, der in Pariser Kunstkinos (und auf der Berlinale) Furore machte, um dann zum Meilenstein des jungen Hollywood zu werden. Wie alle Meisterwerke des fantastischen Films findet „Duell“ ein Bild für unseren schlimmsten lebenslangen Gegner: das Unsichtbare. Pechschwarz ist der Lastzug, der da im Rückspiegel auftaucht, um seinen Vordermann gnadenlos über den Highway to Hell zu jagen.
Aber auch der junge Mann im Regiestuhl kämpfte an mehreren Fronten: Warum sollten persönliche Filme immer nur kleine Filme sein? Der phänomenale Erfolg des ersten modernen Action-Blockbusters, „Der weiße Hai“, verschaffte ihm, was andere renommierte Regisseure ihr Leben lang nicht bekamen: eine Carte blanche für den „Final Cut“.
Für Martin Scorsese ist Spielberg ein Genie visuellen Denkens: „Filmemachen ist seine zweite Muttersprache“. Schon in den 8-mm-Filmen des Teenagers – wie dem 40-minütigen Kriegsfilm „Escape to Nowhere“ über den Kampf gegen Rommel, den Wüstenfuchs – ist diese Fähigkeit zu Kameraschwenks auf mitteilsame Details und expressive Perspektiven sichtbar. Später wird er bei „Schindlers Liste“ die Kamera wieder über weite Strecken selbst in die Hand nehmen. Erst mit seinem an Originalschauplätzen in Auschwitz und Krakau gedrehten Holocaust-Drama errang er den Oscar für die beste Filmregie. Im letzten Akt von „Die Fabelmans“ kehrt das Thema Antisemitismus in seinem Werk zurück – und strahlt in der Schilderung alltäglicher Diskriminierung zurück in die Gegenwart.
Wer mit Spielbergs Filmen aufwuchs, wurde Zeuge einer erstaunlichen Karriere: Von diesem Filmemacher, der mit Mitte 20 Weltruhm genoss und sich danach an jedem Genre erprobte, konnte man alles lernen – außer das Älterwerden.
The Fabelmans. USA 2022., Regie: Steven Spielberg. 151 Minuten