Vielfältiger Einzelgänger: Eine Werkschau erinnert an Julien Duvivier
Der Regisseur drehte mit den größten Stars seiner Zeit, brillierte in nahezu jedem Genre – und ist in Deutschland trotzdem fast unbekannt. Zeit, das zu ändern!

Der jüngste Sohn der im Ort angesehenen Familie Lepic wird seines Haares wegen von allen nur Rotkopf genannt. Das ist nicht liebevoll gemeint. Die eigene Mutter lässt ihren Lebensfrust ungehemmt an dem Kind aus, in ihrem Windschatten tun es ihr die beiden älteren Geschwister gleich. Der Vater scheint von diesem innerfamiliären Mobbing nichts zu bemerken, seine Kandidatur als Bürgermeister ist ihm wichtiger. Erst als sich die Situation zur Katastrophe zuspitzt, wacht er auf und rettet den Ausgestoßenen. Fast wäre sein Sohn an der sozialen Ausgrenzung eingegangen, dies inmitten eines ausgelassenen Volksfests.
Der autobiografisch gefärbte Roman „Poil de carotte“ (Karottenhaar) von Jules Renard lag dem französischen Regie-Routinier Julien Duvivier (1896–1967) derart am Herzen, dass er die Vorlage gleich zweimal verfilmte. Zunächst 1925 als Stummfilm, sieben Jahre später in einer völlig neu eingerichteten Tonfassung. Beide Versionen sind von meisterhafter Traurigkeit. Sie können jetzt unmittelbar miteinander verglichen werden. Den Anlass gibt eine Werkschau zu Ehren des französischen Regisseurs, dessen Name in Deutschland bis heute nur wenigen geläufig ist, obgleich einige seiner Filme hier sehr erfolgreich waren. Erinnert sei an die beiden Don-Camillo-Komödien, die eher mit dem unvergessenen Fernandel als kämpferischem Provinzpriester assoziiert werden als mit ihrem eigentlichen Urheber.

Duvivier konnte keiner Welle oder Schule zugeordnet werden
Mit knapp 20 ausgewählten Arbeiten von Duvivier zeigt die aktuelle Retro knapp ein Viertel seines vielfältigen Oeuvres. Sie macht ihn damit als ebenso produktiven wie präzisen Filmemacher entdeckbar. Sein bisheriges Wahrnehmungsmanko rührt schlicht daher, dass er keiner Welle oder Schule zuzuordnen war. Statt mit Manifesten oder öffentlichkeitswirksamen Aktionen von sich reden zu machen, drehte er stur einen Film nach dem anderen, brillierte in nahezu jedem Genre, war in Paris, Berlin, London und Hollywood aktiv. Er drehte unter anderem Liebesdramen („Ein Frauenherz vergisst nie“), Literaturadaptionen („Anna Karenina“), Komödien („Hallo Hallo! Hier spricht Berlin!“), Abenteuerfilme („Pépé le Moko – Im Dunkel von Algier“), Biografien („Der große Walzer“) oder Krimis („Maigret“). Seine Besetzungslisten lesen sich wie Star-Lexika, umfassen so unterschiedliche Namen wie die von Jean Gabin und Alain Delon über Louis de Funès und Hildegard Kneef bis hin zu Rita Hayworth und Charles Laughton.
Bei aller Vielfalt sind einige Grundmotive im Gesamtwerk Duvivuers doch evident. So kann seine insgesamt skeptische Sicht auf die menschliche Spezies nicht übersehen werden. Oft werden Gruppensituationen entworfen, innerhalb derer sich die Machtverhältnisse mehrfach verschieben. Kaum jemand, der nicht für Opportunismus anfällig wäre, selbst innerhalb der Résistance, wie er 1958 im Kammerspiel „Marie-Octobre“ zeigte. Zum Guten, so sein bitteres Fazit, sind manchmal Einzelne imstande – fast nie aber die Menschen im Plural. Womit wir wieder am Anfang und beim gepeinigten Rotkopf wären. Duvivuers Liebe galt den Außenseitern. Er war einer von ihnen.
Mise en Scène – Julien Duvivier. Werkschau im Kino Arsenal, noch bis zum 31. März. Zur Retrospektive erscheint die Publikation „Julien Duvivier. Virtuoses Kinohandwerk“.