Der Zauber des Alltäglichen in Zeiten der Gewalt

Der Berlinale-Film „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ des Berliner Filmschul-Absolventen Alexandre Koberidze kommt endlich ins Kino.

In „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ erzählen auch die Dinge Geschichten.
In „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ erzählen auch die Dinge Geschichten.Faraz Fesharaki/DFFB Stars/Grandfilm

Nach zwanzig Minuten fordern die georgischen Schnörkel-Buchstaben: Achtung! Die deutschen Untertitel erklären dem Publikum, es solle beim ersten Signalton die Augen schließen, beim zweiten dürfe es wieder schauen. Der Film „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ arbeitet auf besondere Weise mit der Wahrnehmung. Er erzählt von der Verzauberung seiner Helden und verzaubert das Publikum. 2021 erhielt er bei der Berlinale den Preis der internationalen Kritiker-Vereinigung Fipresci, jetzt endlich können ihn alle sehen.

Auf dem betonierten Stück Weg, wo Lisa und Giorgi zweimal versehentlich ineinander laufen, waren gerade noch Kinder verschiedenen Alters unterwegs. Die Kamera zeigte sie beim Schulschluss einzeln oder in Grüppchen eher schlendernd als gehend, mehr hüpfend als laufend, vom Stundenplan befreit. Von Lisa und Giorgi aber sieht man genau dort, eine Einstellung später, nur die Füße und das Buch, das einem von beiden aus der Hand plumpst. Erst danach bekommt jeder von ihnen eigene Bilder. Lisa in der Apotheke, wo sie neben dem Medizinstudium jobbt, Giorgi beim Fußballtraining. Schließlich senkt sich zu Harfen- und Flötenklängen die Nacht über die Stadt Kutaissi in Georgien. Und die beiden begegnen sich wieder. „Zufälle sind zuverlässig“, sagt sie, willigt aber ein, als er sich mit ihr für den nächsten Tag verabreden möchte.

Das Poetische im Konkreten

Lisa, schon verliebt, wird an der Straßenkreuzung von einem Fluch getroffen. Sie werde am Morgen mit einem anderen Gesicht erwachen. Ein Setzling, eine Überwachungskamera, die Regenrinne teilen ihr das mit. Wir können die Dinge nicht reden hören, die Erzählerstimme aus dem Off berichtet davon. Nur der Wind, der Lisa noch etwas von Georgi sagen wollte, den auch der Fluch treffen würde, kommt nicht mehr zu Wort.

Ihre Namen, die wir Zuschauer kennen, wissen die beiden nicht voneinander. Wie sollen sie sich erkennen? „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ variiert die Geschichte von den Königskindern, die nicht zueinander können. Die hindernden Kräfte liegen hier außerhalb des Beeinflussbaren. Darauf muss man sich einlassen.

Alexandre Koberidze, Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, verankert sein Märchen für Erwachsene in der Realität der Stadt am Fluss, mit überprüfbaren Schauplätzen wie Lisas Apotheke und Georgis Fußballplatz, einer Musikschule und dem Café an der weißen, der Bierbar an der roten Brücke. Sogar zeitlich setzt er einen konkreten Rahmen mit einer Fußball-Weltmeisterschaft, zu deren Public Viewing das Publikum strömt.

Lange Einstellungen zeigen Menschen unterwegs oder bei Pausen, bereiten Fußball spielenden Kindern und Jugendlichen eine Bühne, folgen freundlichen Hunden. Lisa und Giorgi, aus ihren Verhältnissen geworfen, beginnen beide beim selben Café und dann für einen Filmdreh zu arbeiten, sie kommen sich nahe. Für eine Beziehung offen sind sie nicht, weil sie auf die Person warten, der sie vor dem Liebes-Fluch begegnet sind.

„Die Zeit war gewaltsam, gnadenlos“

Der 1984 in Tiflis geborene Alexandre Koberidze, für Drehbuch, Regie und Schnitt verantwortlich, lässt dem Paar viel Zeit. Er hält auch an seiner männlichen Erzählstimme fest, die einmal, als ein Fußball auf den Wellen des Flusses tanzt, unvermittelt sagt: „Die Zeit war gewaltsam, gnadenlos“. Er habe keinen Zweifel daran, dass sie von den Menschen der Zukunft als eine der gewalttätigsten bezeichnet werden wird. Es sei schwer vorstellbar, wie Menschen ein alltägliches Leben führen können, wenn um sie her schwerste Verbrechen geschehen. Dieser Moment passt genau zu unserer Gegenwart.

Dieser Film bietet mit seinen weiten Bildern, seiner Langsamkeit und Rätselhaftigkeit ein Gegenprogramm zu den Nachrichten von Krieg und Umweltzerstörung. Die Hoffnung liegt allein in der Kunst, in der Poesie. Auch wenn sie nur einen Abend lang hält. Koberidze nimmt sich die Freiheit zu träumen.

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? Deutschland 2021. Regie und Drehbuch: Alexandre Koberidze. Mit Ani Karseladze, Giorgi Bochorishvili u. a. 150 Min., FSK ab 0.