Wer stirbt, lebt weiter: Der trostreiche Ensemblefilm „Tótem“ aus Mexiko

Lila Avilés vertraut in ihrem zweiten Spielfilm auf die schweifende Dramaturgie des kindlichen Blicks und zeichnet ein beglückendes trauriges Familienpanorama.

Naíma Sentíes spielt die siebenjährige Sol, für deren Vater ein Abschiedsfest gegeben wird.
Naíma Sentíes spielt die siebenjährige Sol, für deren Vater ein Abschiedsfest gegeben wird.Limerencia

Die siebenjährige Sol langweilt sich, ihr Vater hat gerade keine Zeit für sie, er ist mit dem Sterben beschäftigt. Sie streift durchs Geviert, setzt Schnecken auf die Familiengemälde, schmeißt eine Keramikschale runter, trinkt ein Schlückchen Wein, der wie Blut schmeckt, fragt die Handy-KI, wann die Welt untergeht, klaut dem Großvater, der keinen Kehlkopf mehr hat, den elektronischen Stimmgenerator und spielt Alien mit ihrer Cousine. Der Patriarch versteht keinen Spaß, schließlich ist er Psychotherapeut und braucht das Gerät für die Konsultationen, die in diesem wuseligen Haus ohnehin seine Nerven angreifen. Zum Glück hat der Witwer seine Bonsaibäume, denen er mit Schere, Pinsel und Liebe ihre harmonische Form angedeihen lässt. Alles andere läuft in dem herzzerreißenden und -erhöhenden Ensemblefilm „Tótem“ der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés so ziemlich aus dem Ruder.

Wie gesagt, Sols Vater Tona (Mateo García Elizondo) ist nur noch ein Schatten seiner selbst, er kommt ohne Hilfe nicht mehr auf die Beine, seine Ausscheidungen kriegt er nicht mehr kontrolliert, eine Chemotherapie ist zu teuer, von Morphium wird er „komisch“. Heute soll sein letzter Geburtstag und zugleich Abschied gefeiert werden. Seine Geschwister bereiten ein Überraschungsfest vor, Speisen müssen vorbereitet, die Kinder beschäftigt, das Haus in Schuss gebracht werden, das Badezimmer ist in Dauerbeschlag, es kündigt sich schlechtes Wetter an und der konzertierte Ausbruch vielgestaltiger Neurosen. Dass eine Geisterjägerin durchs Haus gescheucht wird, die Familie für eine Quantentherapiesitzung kaum zur Ruhe zu bringen ist und ein Papagei die Abläufe stört, bringt alles noch mehr durcheinander.

Die Kamera folgt der schweifenden Dramaturgie des kindlichen Blicks, wundert sich über das Verhalten von Erwachsenen, verströmt Befremden, Zuneigung und Vertrauen, zieht sich im größten Trubel in die Einsamkeit zurück. Das schöne, von Glück und Trauer durchfunkelte Gesicht der Kinderdarstellerin Naíma Sentíes verstrahlt die in den Film geschriebene Liebe zum Leben und zum verstrickten und gehaltenen Menschen, der sich nicht selbst gehört und schon deshalb weiterlebt. Schöne unangestrengte Bilder findet der Film dafür: Wie sich die Gäste Tona-Masken vor die Gesichter halten, weil sie alle mit dem Sterbenden verbunden sind. Oder wie Sol auf den Schultern ihrer Mutter Luz (Iazula Larios), die unter dem Kleid verschwindet, eine Opernarie singt, die die beiden zuvor kichernd auf dem Klo eingeübt haben. „Wir sind zwei, wir sind eins.“ Furchtbar traurig ist es natürlich trotzdem.

Wettbewerb: „Tótem“ von Lila Avilés, Mexiko, Dänemark, Frankreich 2023

Termine: 21.2., 15.30 Uhr Zoo-Palast; 21.2., 18.30 Uhr Verti Music Hall; 24.2., 10 Uhr Haus der Berliner Festspiele; 26.2., 12.45 Uhr Berlinale-Palast