Zhang Yimous „Eine Sekunde“: Meisterwerk mit Fragezeichen
Wohl weil die chinesische Zensurbehörde Einwände hatte, konnte „Eine Sekunde“ 2019 nicht auf der Berlinale laufen. Nun kommt eine neue Fassung ins Kino.

Ein Mann, sichtlich gezeichnet von einer langen Reise, kämpft sich durch die Wüste. Der Sand weht ihm ins Gesicht, er stolpert die Dünen hinunter, muss seinen Hut festhalten. Aus Tag wird Nacht, er läuft weiter, ohne Pause. Schließlich kommt er in ein kleines Dorf, und erst als er merkt, dass er hier wirklich richtig ist, hängt er sich, halb verdurstet, unter den Wasserhahn. Der namenlose Held (Zhang Yi) im neuen Film von Zhang Yimou, dem berühmtesten zeitgenössischen Regisseur Chinas, war auf der Suche nach einem Film – ein paar Metern Zelluloid, die ihm helfen sollen, das Leiden der vergangenen und kommenden Jahre zu überstehen.
Man könnte diese ersten Minuten und auch die folgenden hundert als Liebeserklärung an das Kino lesen, doch das wäre zu kurz gegriffen. Schlüsse über die politischen Dimensionen der Erzählung lassen sich allerdings nur begrenzt ziehen, müssen doch die Bedingungen, unter denen Zhang Yimou Filme macht, dabei immer mitgedacht werden.
„Eine Sekunde“ sollte eigentlich schon 2019 im Wettbewerb der Berlinale gezeigt werden. Doch vier Tage vor der geplanten Premiere zogen die Verantwortlichen den Film zurück, angeblich aufgrund technischer Schwierigkeiten bei der Postproduktion. So etwas gab es in der Geschichte der Berlinale noch nie. Wie die beabsichtigte Schnittfassung des Regisseurs aussah, wird die Welt nun wahrscheinlich nie erfahren, erst zwei Jahre später lief die überarbeitete und abgesegnete Version international auf Festivals.
„Leben!“ darf in China bis heute nicht gezeigt werden
Zhang Yimou hat, auch politisch, eine bewegte Karriere hinter sich. Geboren 1950 während der Kulturrevolution, erlebte er als Kind Verfolgung und Zwangsarbeit. Diese Erfahrungen verarbeitete er seinem fünften Film „Leben!“, der 1995 in Cannes mehrere Preise gewann, in China allerdings bis heute nicht gezeigt werden darf. Nichts auszusetzen hatte die Zensurbehörde dagegen an Zhangs Wuxia-Filmen – Erzählungen mit kampfstarken Helden im Zentrum, die nach konfuzianischer Ethik handeln: „Hero“ (2002), „House of Flying Daggers“ (2004) und „Der Fluch der Goldenen Blume“ (2006) wurden internationale Publikumserfolge nach dem Gusto der chinesischen Regierung. Für Zhang bedeutete das Millionenbudgets, die es ihm ermöglichten, visuelle Meisterwerke zu schaffen und weiterhin mit seinen wehrhaften Heldinnen das chinesische Frauenbild zu beeinflussen. 2008 belohnte ihn die Regierung mit dem Auftrag, die Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in Peking zu inszenieren.
Man meint Zhangs Filmen seitdem anzumerken, wie er sein Schaffen vorsichtig durch eine Grauzone aus Kontrolle und hart erarbeiteten Freiräumen laviert. In „Coming Home“ erzählte er 2014 leise von einem Dissidenten, der während der Kulturrevolution aus einem Arbeitslager flieht, 2016 ließ er in „The Great Wall“ Matt Damon auf der Chinesischen Mauer Horden von Monstern niedermetzeln.
Auch in „Eine Sekunde“ ist der Held aus dem Arbeitslager geflohen, auch er, um seine Tochter wiederzusehen, diesmal allerdings nur auf der Leinwand. Im Lager erreichte ihn die Nachricht, dass sie in der aktuellen Wochenschau im Kino-Vorprogramm gezeigt wird, und der Gedanke, nach Jahren noch mal ihr Gesicht zu sehen, vielleicht sogar etwas über ihr Leben zu erfahren, das der Vater durch seine Verfehlung schon zerstört geglaubt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Nun muss er eigentlich nur noch der Filmrolle zum Projektor ins nächste Dorf an der Seidenstraße folgen, doch dann stiehlt plötzlich ein Waisenmädchen (Liu Haocun) eine der Dosen. So dringend, wie der Mann den Film im Kino sehen will, so dringend will das Mädchen es verhindern.
Die Frage nach der Zensur schwingt immer mit
Während die beiden sich ihr Duell liefern, wartet ein ganzes Dorf auf die wertvollen Filmrollen, die neben der Wochenschau auch die Heldenerzählung aus dem Koreakrieg „Heroische Söhne und Töchter“ auf die Leinwand bringen sollen. Für die Projektion ist ein Mann (Fan Wei) zuständig, der von den Dorfbewohnern nur Kino-Onkel genannt und ob seines Postens voller Ehrfurcht behandelt wird. Für einen guten Platz steckt man ihm Erdnüsse und Nudeln zu, Widerworte gibt es nicht. „Filme vorzuführen ist eine ernste Angelegenheit. Das Publikum da draußen ist hart“, sagt er, bevor er zum x-ten Mal den Propagandafilm in Stellung bringt. Ausgerechnet auf die Hilfe dieses treuen Parteimitglieds wird der Sträfling bald angewiesen sein, um an sein Ziel zu gelangen.
Wie Zhang Yimou den Kino-Onkel wohl ohne Zensur erzählt hätte? Hat der Regisseur den Aufpassern ein Schnippchen geschlagen, wenn er zeigt, wie eine Filmrolle ruiniert wird, weil ihr Transporteur mit dem Klebeband, das die Dose verschloss, seine Peitsche reparierte? Es ist bedauerlich, dass solche Fragen immer mitschwingen müssen, doch sie schärfen auch den Blick. Für Details, für subtil Verborgenes, für große Gefühle in weiten Landschaftsaufnahmen und für Leerstellen, die Bände sprechen. All das gelingt Zhang Yimou in seiner Inszenierung, wie schon seit 35 Jahren, auch in „Eine Sekunde“ meisterhaft.
Eine Sekunde, Spielfilm, 104 Minuten, ab 14. Juli im Kino