Kirill Petrenko zieht die Zügel an

Der russische Chefdirigent eröffnete die Saison mit Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“. Alles auf Abstand – versteht sich.

Man erkennt es am fehlenden Abstand: Die Aufnahme von Kirill Petrenko in der Berliner Philharmonie stammt aus dem Jahr 2017.
Man erkennt es am fehlenden Abstand: Die Aufnahme von Kirill Petrenko in der Berliner Philharmonie stammt aus dem Jahr 2017.Monika Rittershaus

Berlin-Es habe ausgesehen wie eine „schlecht besuchte Beerdigung“, berichtete ein mies gelaunter Daniel Barenboim nach einem der ersten Corona-Konzerte, an dem er beteiligt war. Jedoch kommt es nicht selten vor, dass Beerdigungen, gut oder schlecht besucht, in Erleichterung, gar Heiterkeit umschlagen.

Der Saal war nur zu einem Viertel besetzt: Für eine Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker fühlt sich das selbstverständlich schlecht besucht an. Und der Gedanke an eine Beerdigung ist nicht ganz abwegig, wenn zu Beginn am Freitagabend Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Bearbeitung für Streichorchester zu hören ist. Sterbensbleiche Unisono-Klänge spielen die Bratschen und Celli zu Beginn im Rhythmus eines langsam noch pochenden Herzens, ermattet absteigende Linien lassen sich darüber vernehmen in einer zweiten Gruppe von Bratschen und Celli.

Auch wenn das Stück allmählich Fahrt aufnimmt: Kirill Petrenko, der Chefdirigent, bleibt vorsichtig, hält kontrollierende Distanz zu diesem spätromantischen Werk (sieben Jahre später wandte sich Schönberg der Atonalität zu) und fügt kaum eigene Emotionalität hinzu.

Solch kluge Dosierung der Mittel macht Petrenko derzeit zu einem der besten Dirigenten für das romantische Repertoire. Im Konzert am Freitag hilft solche Zurückhaltung auch bei der Gewöhnung an die neuen Spielbedingungen. Vorsichtiger lässt man es da angehen als das Konzerthausorchester am Abend zuvor, das bei seiner Saisoneröffnung unter neuen Bedingungen ins Schwimmen geriet.

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Möglicherweise verfügen die Philharmoniker neben der Abgebrühtheit des Spitzenensembles auch über den gutmütigeren Saal. Abwartend lassen sie es aber auch bei Johannes Brahms’ 4. Sinfonie angehen, wo sich die Bläser umsichtig ins Klangbild einfügen, im Zwei-Meter-Abstand sitzend, gestaffelt bis hinauf, wo auf der Bühne sonst die Schlagzeuger sitzen. Petrenko lässt diesen Brahms wohlwollend geschehen, kümmert sich um geschmeidige Übergänge und einen nie abreißenden Klangfluss: vielleicht aus musikalischer Überzeugung, vielleicht, um den Musikern Gelegenheit zu geben, mit den neuen Umständen vertraut zu werden. Mit dem triangelklingelnden dritten Satz ändert sich der Ton, Petrenko zieht die Zügel an, das Orchester wagt sein erstes Fortissimo.

Und im Schlusssatz ist es dann so, als hätte es Corona nie gegeben. Jede Variation dieser Passacaglia formt Petrenko zu einer eigenen Geschichte, entschieden greift er nun ins Geschehen ein, die Musiker, im Bewusstsein einer neu gewonnenen Selbstverständlichkeit, spielen wie befreit, und man hört: Verlernt haben sie nichts im vergangenen halben Jahr. Dafür in Windeseile dazugelernt: Wie man auf Abstand spielt. Am Ende braucht man an eine Beerdigung nicht mehr zu denken, der Schluss ist triumphal. Und der Beifall klingt fast so, als wäre die Philharmonie voll besetzt.