Kommentar Kurator Claus Löser: Gegen die Vernichtung des Filmerbes
Im Spielfilm „Die Abenteuer eines Zehnmarkscheins“ von 1926 wandert eine Banknote von Hand zu Hand. Die einzelnen Stationen ihrer Reise werden anekdotisch beschrieben und gewähren Einblick in die Schicksale der jeweiligen Besitzer. Zuletzt landet der Schein in der Gosse und wird von einer Katze zerfetzt.
Der von Bertold Viertel inszenierte und von Béla Balász geschriebene Film hinterließ bei der zeitgenössischen Kritik tiefen Eindruck. Herbert Jhering und Siegfried Kracauer berichteten über ihn: Ihre Zeugnisse und einige Szenenfotos sind alles, was von diesem wichtigen Dokument der Neuen Sachlichkeit geblieben ist. Es existiert heute keine Kopie mehr von diesem Werk.
Bei dem Verlust handelt es sich aber nicht um die Ausnahme, sondern um die Regel. Aus der Stummfilmzeit sind schätzungsweise nur 20 Prozent aller entstandenen Werke überliefert. Der Grund dafür liegt im abwesenden Bewusstsein dafür, dass es sich bei Filmen um ein erhaltenswertes Kulturgut handeln könnte. Nach ihrer zeitlich sehr bemessenen Auswertung landeten die meisten Zeugnisse des frühen Kinos im Müll. Ob etwas aufgehoben wurde oder nicht, blieb dem Zufall überlassen.
Nur wenige Privatpersonen erkannten den Wert des Materials und begannen, Filmkopien aufzuheben, so der Filmregisseur und spätere Gründer der Deutschen Kinemathek Gerhard Lamprecht (1897-1974). Als die Nazis 1935 in Berlin-Dahlem das Reichsfilmarchiv aus der Taufe hoben, stellte dies unter museumskonservatorischen Aspekten eine Pioniertat dar. Erst jetzt wurden in Deutschland Filmkopien systematisch gesammelt und sachgerecht eingelagert.
Von wegen sicherer Hafen
Damit war das Filmsterben allerdings noch nicht vorbei. Manches von dem, was in den Kriegsjahren nicht zerstört oder von den Siegermächten als Beutekunst abtransportiert wurde, zerstreute sich nach 1945. Ab 1949 wurden in der Bundesrepublik an mehreren Orten Filmarchive ins Leben gerufen; auch das Bundesarchiv begann zu jener Zeit, Filme in seine Sammlungen einzugliedern. In der DDR erfolgte 1955 die Gründung eines Staatlichen Filmarchivs. Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit gingen dessen Bestände an das Bundesarchiv über.
Die optimistische Vorstellung, dass damit maßgebliche Teile des deutschen Filmerbes in einen sicheren Hafen eingelaufen sein könnten, bekommt in jüngster Zeit empfindliche Risse. Das Problem ist hochkomplex und kompliziert zu umreißen, da sich in ihm bürokratische, politische und technische Aspekte überschneiden. Unlängst veröffentlichten der Filmhistoriker Jeanpaul Goergen, der Filmemacher Helmut Herbst und der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier eine Petition, mit der sie erstmals auf Unstimmigkeiten bei Lagerung und Digitalisierung des Archivgutes im Bundesarchiv hinwiesen (Berliner Zeitung vom 3.12.). Seither häufen sich alarmierende Signale.
Während in Frankreich in den vergangenen sechs Jahren für die digitale Sicherung des nationalen Filmerbes eine Summe von 400 Millionen Euro bereitgestellt wurde, beläuft sich in Deutschland die dafür veranschlagte Förderung auf gerade mal auf zwei Millionen Euro jährlich. Die Digitalisierung eines abendfüllenden Filmes kostet heute zirka 15000 Euro. Angesichts der Tatsache, dass im Bundesarchiv knapp 150000 Filme lagern, lässt sich ahnen, wie lang die Warteliste ist. Es steht zu befürchten, dass zunächst nur die „Leuchttürme“ gerettet werden.
Für die Masse des Archivguts tickt hingegen eine Zeitbombe. Bis etwa 1950 wurden Filmkopien auf Cellulosenitrat (CN) ausgeliefert – eine Verbindung aus Cellulose mit Nitriersäuren, die chemisch mit Schießpulver verwandt ist und deshalb bei Hitzeeinwirkung hochexplosiv reagiert. Filme vorzuführen, war früher ein lebensgefährlicher Job! Noch heute erkennt man längst stillgelegte Kinos an den Fluchttreppen im Hinterhof. Vorführkabinen waren mit Feuerschutzklappen zum Saal hin gesichert und konnten ausbrennen, ohne dass die Flammen auf den Rest des Gebäudes übergriffen. (Quentin Tarantino hat in „Inglourious Basterds“ auf die Sprengkraft von Filmmaterial hingewiesen.)
Klar, dass man die Brandherde im Kino abschaffen wollte. Kaum entflammbare Filmkopien auf Celluloseacetat-Basis (CA) lösten deshalb bald die gefährlichen CN-Filme ab. Um auf CN-Kopien überlieferte Filme unabhängig von aufwändigen Sicherheitsvorkehrungen vorführbar zu machen, wurden tausende von Werken umkopiert und somit für weitere Jahrzehnte gerettet. Die Originale wurden teilweise vernichtet, „kassiert“ – wie der euphemistische Amtsbegriff dafür lautet. Aber CA-Filme sind ebenfalls gefährdet: Bei ihnen wird je nach Qualität des Ausgangsmaterials das sogenannte „Essigsyndrom“ virulent – Feuchtigkeit dringt in die Trägerschicht ein und löst dort eine Hydrolyse aus, die zur Selbstzerstörung führt.
Arbeit mit Gasmaske
Bei der Lagerung ist also höchste Sorgfalt geboten. Genau hier scheint es Schwachstellen zu geben. In einem Archivbunker hat es einen Wassereinbruch gegeben, ein anderer weist hochgiftige Naphtalin-Gase auf. Mitarbeiter des Archivs können dort nur in Schutzkleidung und mit Gasmaske arbeiten. Als mögliche Ursache wird auf eine unterirdische Teerblase verwiesen, die noch aus DDR-Zeiten stammen soll. Was doch abenteuerlich klingt.
Möge das Bundesarchiv auch durch die jüngste technische Entwicklung infolge systemimmanenter Trägheit teils überfordert gewesen sein, so resultieren aus den aktuellen Ereignissen doch dringende Überlegungen. 1) Die Fördersummen zur Digitalisierung des analog überlieferten Fimerbes müssen erhöht werden. Darüber hinaus bedarf es eines Konzepts für die weiterführende Behandlung der „Digitalisate“, um diese tatsächlich nachhaltig nutzbar zu halten. 2) Die „Kassierung“ von Nitrat-Originalkopien nach ihrer Umkopierung auf Azetat-Film oder auf digitale Formate ist inakzeptabel.
Das Bundesarchiv muss Anschluss an aktuelle Forschungen zum Umgang mit analogem Filmmaterial finden und seine Informationspolitik transparenter gestalten. 3) Wie in der Petition bereits betont, sollten künftig die Kenntnisse und Aktivitäten zur langfristigen Sicherung des filmgeschichtlichen Gedächtnisses durch eine zentrale Stelle gebündelt und koordiniert werden. So ließen sich vielleicht doch Brücken von der analogen Filmgeschichte in die digitale Medienzukunft schlagen.