Kommentar zum Heimatbegriff: Wer seine Wurzeln nicht loslässt, kommt nicht vom Fleck

Jetzt soll also Heimat empfunden werden. Nicht mehr nur ironisch in der Werbung oder museal im Volkslied, sondern ganz ernsthaft und nachrichtenfähig. Damit man wieder mehr „Halt verspürt“, wie der Bundesinnenminister neulich in einem Interview mit der Welt am Sonntag ausführte. Oder damit „der Zusammenhalt nicht auseinanderbricht“, wie der allzeit sekundierfreudige Kulturrat in Person von Olaf Zimmermann am Ostermontag verlautbarte: „Heimat ist dort, wo es mir nicht egal ist, wie es ist.“ Und die Anteilnahme ließe sich am besten durch ehrenamtliches Engagement erlangen. Freiwillige Feuerwehr, Gesangsverein etc.

Am Ostermontag war ich selbst gerade dort, wo ich einst zur Schule gegangen bin, und wo einem jene, die nicht weggegangen sind, tatsächlich die (leicht vorwurfsvollen) Worte zurufen: „Bist du auch mal wieder in der Heimat!“ Ja, wenn Heimat der Ort ist, der einen stets so umfängt, als hätte man sich nie aus ihm fortbewegt und in dem man auch immer das bleibt, was man einmal war... Ist das der Halt, den Horst Seehofer und Olaf Zimmermann meinen? Dieses „Du hast dich ja gar nicht verändert!“, bei dem man wie Brechts K. vielleicht besser erschrecken sollte?

Die Schwester der Heimat war damals die Front

1991 ließ Botho Strauß die Gesellschaft in seinem Stück „Schlusschor“ bei dem Wort „Deutschland!“ noch erstarren. Jetzt, da das D-Wort selbst bei Älteren keine unangenehmen Erinnerungen mehr zu wecken scheint, traut man sich einen Schritt weiter und will neben den politischen Körper unseres Landes offiziell wieder einen Körper der sozialen Verbindlichkeit platzieren. Heimat, das sind, siehe oben, die schon fertigen Bilder, die gegebenen Beziehungen, die gesetzten Normen. Und natürlich bleibt Heimat stets das Gegenteil der Fremde, in der man zwar ebenfalls sesshaft sein kann, womöglich sogar freiwillig, aber in der man eben nicht beheimatet ist.

In der Sprache des Nationalsozialismus war die Schwester der Heimat die „Front“. Von dort waren die Soldaten angehalten, Briefe zu schreiben und zwar nicht an ihre Familien, sondern „in die Heimat“. Ganz eng sollte das Ohr an den sich immerzu ausdehnenden Volkskörper gepresst bleiben, dem es Raum zu schaffen und den es zu verteidigen galt. Und auch wenn das fast achtzig Jahre her und die Grenzfrage inzwischen einigermaßen geklärt ist: Im Begriff der Heimat versinken Individuum und das Individuelle nach wie vor. Und daran, dass es ein exklusiver und exkludierender Begriff ist, kann kein Zweifel bestehen. Jede Erwähnung einer doppelten oder gar mehrfachen Heimat ist nur das rhetorische Mittel, davon zu erzählen, dass jemand nicht die eine und also letztlich keine Heimat hat.

Heimat ist definitiv meist die Heimat der anderen. Es kann dort einer 30 Jahre lang ein Zugezogener bleiben, während die Weggezogenen bei jedem Besuch nicht nur mit Schuldgefühlen und Distinktionsbegehren kämpfen, sondern auch mit winzigen Momenten der träumerischen Sehnsucht: Was wäre, wenn man geblieben wäre? Wo genau hätte man sein Haus (ein Haus!) gebaut? Momente nur, wie gesagt. Rollt dann der Zug wieder in den gewählten Wohnort ein, atmet man auf. Zurück, zuhause, das Leben hat einen wieder.

Aus Heimat kann ganz schnell Stagnation werden

Schon klar, dass die Freunde des Heimatbegriffs letztlich auf dieses temporäre, nicht ausdefinierte Zuhause zielen und es als neue „Heimat“ festgelegt und auserzählt wissen wollen. Die Sehnsucht nach der Erzählbarkeit des Daseins ist ja unendlich geworden, seit die äußeren Grenzen gefallen und es kein Inneres gibt, das per se Sicherheit verspräche: vom Missbrauchsfall im Kindergarten über den Amoklauf im Einkaufszentrum bis zu jenen, die „ungehindert in unsere Sozialsystem einwandern“ (Uwe Tellkamp) und dabei gar keine deutsche Vorfahren vorweisen können, sondern nur eine verlorene – Heimat.

Wie Peter Handkes Erzählerin aus seinem Drama „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ (1997) die Gescheiterten und Infragegestellten „ganzerzählen“ und damit zugleich Königin werden will, so wird derzeit die Idee einer Wertediskussion hofiert, die im „globalen Wettbewerb der Narrative“ (Koalitionsvertrag 2018) als Siegerin hervorgehen könnte. Nur nicht hinter jenen zurückstehen, die zumindest erzählen können, was sie verloren haben! Und den für falsch gehaltenen Gewissheiten anderer unbedingt ein gewisses Eigenes entgegenstellen! Aber was? Und in welcher Form?

Darauf wusste auch Handke im genannten Stück keine Antwort. Aber es gibt da noch die Figur des zum König berufenen Pablo, der an einer neuen Verfassung herumdenkt und als ersten Satz schließlich festlegt: „Seid eingedenk, dass ihr einst in der Knechtschaft wart – bedenkt vor jedem Fremden die eigene Fremde mit!“ Und so unmöglich es scheint, sich auf einen Begriff von Heimat zu verständigen, so mühelos könnte man sich herkunftsübergreifend auf der Grundlage des Gegenteils treffen. Denn nicht, was man war, sondern was man werden will, bestimmt doch die gemeinsame Zukunft. Wer seine Wurzeln nicht loslässt, kommt nicht vom Fleck.