Wanda in Berlin: Musik heilt alle Bandscheibenvorfälle
Das Konzert stand auf der Kippe, weil das österreichische Rückgrat des Frontmanns nicht mehr trug. Aber Lahme konnten gehen und Blinde wieder sehen.

Noch nie hat der Auftritt einer Band Orthopäden dermaßen beleidigt. Eigentlich sollte eine der Bandscheiben des Leadsingers von Wanda alle Ausschweifungen am Freitagabend in der Max-Schmeling-Halle verhindern. In München stand das Konzert zwei Tage zuvor kurz vor der Absage. Würde Marco Michael Wanda auf einer Bahre hineingetragen werden, an Krücken singen? Das Gegenteil geschah. Das Geschrei der Vorband konnte nur er wiedergutmachen. Ein Invalide, ein Geschundener? Nein. Völlig unversehrt, zu den Klängen von Piafs „Non, je ne regrette rien“ betrat er die Bühne.
Oben ein Mann, darunter die Gewichte einer Standuhr
Wie Hohn gegenüber der Schulmedizin wiegte er seine Hüfte gegen den Rat der Ärzte. Wie Trotz lag ihm die braune Lederjacke über den Schultern. Wie die Gewichte einer Standuhr auf anderthalbfacher Geschwindigkeit schwangen seine Beine hin und her. Oder war die gesamte über die Medien gespielte Krankheitsgeschichte etwa nur ein PR-Aktion um dem Auftritt eine Letztmaligkeit zu verleihen?
So oder so, der Laden war voll bis an die Vorhänge. Das Beste vom Neuen spielten die Wiener, die viel darauf geben, Wiener zu sein, weil es von ihnen erwartet wird und den Jungs nichts ausmacht: Als allererstes gaben sie „Rocking in Wien“ vom neuen Album „Wanda“ zum Besten. Aber der Song hört sich auch so an als würde man ihn schon kennen, nur der Name fiele einem gerade nicht ein.
Die unkomplizierte Wiener Seele, die Deutsche sich wünschen
Und während die Ränge noch rätselten – auf dem Boden vor der Bühne sprangen die Ultras schon gegeneinander – erinnert Wanda an ihren ersten Höhenflug circa 2015 AD mit dem sicher meistrezipierten Song: „Bussi Baby“. Bussi ist immer Wiener Schmäh und funktioniert bei Berlinern, die sich der deutschsprachigen Welt eine unkompliziertere Seele wünschen würden. In den blaudämmernden Zugängen der Treppen tanzten die ersten Frauen.
Und von Wien ist es nur ein Tunnel oder eine Lawine auf der richtigen Seite der Alpen bis nach Italien, das eigentliche Ziel deutscher Sehnsüchte. Damals drehten sie das Video zum Song mit Ronja von Rönne, einer Autorin der Welt, von der sich Konservative so viel erhofften, wie Linke sich ausmanövriert fühlten. Wanda wirkte auf dem Weg zum Volksliedgut-Provider und niemandem war klar, wie weit die Reise in den Alltag der deutschsprachigen Welt reichen würde.
Die Friedrichstraße hat sich versammelt – drei Stunden Rushhour
Der DACH-Market, also Deutschland, Austria und die Schweiz waren das einzige Limit. Vielleicht ganz Europa dachten wir. Diese Zeiten sind vorbei, aber Wanda ist darüber nicht verwelkt. Marco Michael Wanda hat noch immer die Fähigkeit, die Erwartungen seines Publikums zu schüren, sie scheinbar zu enttäuschen, weil er sie kennt und dadurch noch ein Stück mehr zu erfüllen.
Die Schmeling-Halle ist von oben bis unten voll von Menschen, es ist schwer zu sagen, welchen Schlags. Es ist die Durchmischung der U-Bahnstation Friedrichstraße zur Rushhour. Der Abend könnte in alle Richtungen gehen. Für Berlin, das macht Marco wortlos klar, hätte er auch noch ein paar mehr Wirbel riskiert. „Von Hauptstadt zu Hauptstadt“ ruft er. So werden Berliner gern angesprochen.
Sitzplätze werden zu Stehplätzen, Fans reißen die Köpfe in die Luft als würden sie sich auch einen Bandscheibenvorfall verpassen wollen und schreien die Texte aus voller Seele in die heiße Luft. Als „Amore“ gespielt wird, fallen sich die Konzertbesucher in die Arme. Sie formen mit den Händen Herzen. Personen, die einander beim letzten Song kennenlernten, haben ab jetzt eines gemein: Sie sind im Bann.
Der letzte Song wird gespielt – das wissen die Zuhörer nur noch nicht. Michael, die Rampensau, schwingt zum letzten Mal die Hüften und brüllt in sein Mikrofon: „Wir sind eiskalte Profis, aber das ist geil.“ Er macht eine kurze Pause und setzt erneut an. „Scheiße Berlin, scheiße“, sagt er. Diese Worte sind nicht abwertend gemeint und werden auch nicht so verstanden. In seiner Stimme schwingt Freude mit, Freude darüber, dass all diese Menschen gekommen sind. Vor gut zehn Jahren, als Wanda noch unbekannt war, kamen 50 Personen zu den Konzerten. „Wer war damals da?“, will Marco wissen. Die Ehrlichen heben die Hand. Ein Tamburin fliegt in ihren Kreis.
Sternschnuppen oben ohne
Er beugt sich hinunter zu ihnen, wirft Handküsse in die Menge und dreht sich um. Er steuert auf den Mikrofonständer zu, reißt ihn an sich und wirft ihn in die Menschenmasse. Als nächstes sind die Stand-Tomtoms des Schlagzeugs dran. Doch jetzt treten die anderen Bandmitglieder aus dem Schatten hervor. Im Verlauf der Show überstrahlte Michaels Präsenz den Rest von Wanda. Doch jetzt reagieren die anderen Bandmitglieder auf seinen emotionalen Ausbruch.
In der Dämmerung seines Auftritts schießt einer der Gitarristen wie eine Sternschnuppe an ihm vorbei. Er zerreißt sein Shirt, entblößt seine Brust und stellt sich direkt in die Mitte der Bühne. Für einen kurzen Moment sind alle Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Aber er kann sich nicht von uns verabschieden, das kann nur Michael Marco Wanda – was ist das eigentlich für ein seltsamer Name? „Danke, Berlin. Wir sehen uns wieder.“